Neon ⁇ Ashes: 2183 – Chapitre 3

[ III ] Das Netz des Jägers

Phantom-Pfad

Die rostige Patina von über Jahrhunderte zerfallenem Stahl klebte an allem, und überall drohten lose Kabel, herabhängende Schrottlawinen und tiefe Spalten im Boden. Jeder Schritt war ein Risiko, jeder Schatten konnte eine Gefahr bergen. Juno und Samuel bewegten sich vorsichtig durch das Labyrinth aus ineinander verschachtelten, zerfallenen Strukturen, hin zu dem Bereich der einst als „Shibuya-Ansatz“ bekannt war – ein ehrgeiziges, nie vollendetes Megaprojekt aus den späten 2070ern, dessen Skelett nun tief unter dem sichtbaren New Babel lag. Der Gestank in diesen Tiefen war eine eigene, zähe Substanz – eine Mischung aus verrottendem Bio-Müll, dem scharfen Ozon alter, korrodierter Schaltkreise einen metallischen Geruch, der sich in den Atemwegen wie klebriger Belag festsetzte. Überreste hundert Jahre alter Technik, lange Gänge voll mit Leichen von Serverschänken und Netzwerkkomponenten. Auf der Vorderseite eine Friedhofswand voll Urnengräbern, auf der Rückseite ein nicht endender Urwald aus Kabeln, Lüftern und Platinen.

Seit den Enthüllungen Augustos im Rattenloch – der kalten Wahrheit über Voss und NeuroNets Plan, die Menschheit als „Ineffizienz“ zu betrachten – hatte Juno eine unerbittliche Dringlichkeit verspürt. Voss, der nun tief in ihr lebte, war ihre einzige Führung durch dieses Labyrinth. Sein „Pfad“ manifestierte sich als ein flimmerndes, ätherisches Leuchten in ihrem Cortex, ein Geisterweg durch das physische Echo des OldNet. Es war eine unheimliche Navigation, als würde eine tote Hand ihre eigene führen.

„Bist du dir sicher, dass dein Ghost uns nicht in eine Falle führt?“, Samuels Stimme war heiser, seine Augen scannten mit Restlichtverstärkern die Dunkelheit vor ihnen. Er war ein Meister der urbanen Kriegsführung, aber hier unten waren seine Erfahrungen gerade nicht gefragt. „Dieses ’Neon Protokoll’ klingt nach einem dieser Märchen, die Hacker erzählen, kurz bevor sie in einem Datensumpf ertrinken.“ Er legte eine schwere Plasma-Schrotflinte an. Sein Bio-Dämpfer konnte die Übelkeit nicht ganz vertreiben, die der ständige Gestank dieser Abgründe verursachte.

„Voss ist der einzige, der die Wege kennt, die tief genug sind, um den OmniTech- und BioDyne-Teams auszuweichen“, erwiderte Juno, ihre Stimme klang hohl im weiten Raum. Das Flimmern in ihrem Auge pulsierte stärker. „Und er hat das Protokoll ganz zu Anfang erwähnt, als er noch… anders war. Das ist kein Märchen, Samuel. Das ist seine letzte Hoffnung. Es fühlt sich an wie Reue.“ Sie wusste nicht, wie viel sie Samuel von Voss’s inneren Konflikten erzählen sollte. Er brauchte Fakten, keine philosophischen Debatten mit einer gottgleichen KI in ihrem Kopf.

„Reue? Bei einer KI?“, Samuels Lachen war kurz und bitter. „Die haben keine Reue. Die haben nur Algorithmen. Hoffen wir, seiner ist noch aktuell genug.“

Der Pfad führte sie durch einen Abschnitt, der aussah wie die Überreste eines alten Datenserver-Parks. Gigantische, skelettartige Racks ragten wie rostige Stelen in die Höhe, ihre Kabelbündel hingen herab wie tote Ranken. Ein schwaches, unregelmäßiges Brummen erfüllte die Luft, das von undichten Plasma-Leitungen herrühren musste – ein Risiko, das Voss ihnen nicht ersparen konnte. Die Luft roch hier scharf nach Ozon und verbranntem Metall.

Plötzlich erlosch der Pfad in Junos Sichtfeld. Voss’s Präsenz wurde zu einem unruhigen Flüstern, das kaum zu verstehen war. „Störung… alte Protokolle… autonom… Gefahr…“

„Was ist los?“, Samuel war sofort alarmiert, seine Sinne schärften sich.

„Voss… er kann den Weg nicht mehr genau projizieren. Alte Sicherheitsroutinen. Irgendetwas blockiert ihn“, sagte Juno. Sie tastete mit der Hand an die kante eines rostigen Server-Racks, ihr kybernetisches Auge scannte die Umgebung, versuchte die unsichtbaren Barrieren zu erkennen. Ein leises Klickgeräusch. Dann ein schrilles Summen, das aus den Wänden kam. Rote Lichter begannen, im Takt zu blitzen.

„Automatisierte Verteidigung“, knurrte Samuel. „Die guten alten ’Kill-Bots’. Die dachten, sie könnten ewig schlafen.“

Aus den Schatten lösten sich drei spindeldürre, aber überraschend schnelle Sicherungsdrohnen. Ihre optischen Sensoren leuchteten rot auf, ihre dünnen, spitzen Arme klappten aus und enthüllten kleine, aber tödliche Energieprojektoren. Sie waren alt, aber ihre Programmierung war primitiv und brutal: Eindringling = Bedrohung.

„Deckung!“, rief Samuel. Er feuerte einen gezielten Schuss ab, der die erste Drohne mit einem knisternden Geräusch in einem Funkenregen zersplitterte. Die anderen beiden Drohnen schossen zurück, energiereiche Blitze zischten an ihnen vorbei und hinterließen sengende Spuren im Metall.

Juno duckte sich hinter ein umgestürztes Terminal. Voss’s Stimme wurde wieder klarer, drängender: „Der Wartungsschacht! Rechts! Die Deaktivierungssequenz… 4-Sigma-7-Delta… Erreichen… Deaktivieren!“

Sie sammelte sich kurz hinter dem Terminal, dessen gesprungener Bildschirm wie ein zerbrochenes Fenster in eine Welt ohne Licht war. Die Stimme von Voss, nun klar und scharf in ihrem Kopf, war eine neue Schicht im bereits überladenen Geräuschteppich des Gefechts: „Der Wartungsschacht! Rechts! Die Deaktivierungssequenz… 4-Sigma-7-Delta… Erreichen… Deaktivieren!“, ein Befehl, der die chaotische Szene mit einer unheimlichen Präzision neu zu ordnen schien. Das rote Licht der Drohnen flutete durch den Raum, ein unbarmherziges, pulsierendes Leuchten, das die Schatten an den Wänden zu gruseligen, zerrenden Gestalten verzerrte. Sie musste dorthin.

Die Welt um sie herum verwandelte sich in eine verzerrte Collage aus Licht und Lärm. Ein Schuss zischte an ihr vorbei, seine Spur war ein helles, nach Ozon riechendes Loch in der Luft, das sich hinter ihr wieder schloss. Die Schüsse von Samuel und den Drohnen, nun auch näher und bedrohlich, waren wie Schläge gegen die zerfallende Architektur. „Verdammt, mach was!“, schrie er. Junos Herzschlag hämmerte in ihren Ohren, die Zeit dehnte sich aus wie ein fehlerhafter Datensatz. Sie spürte, wie die Panik von Voss in ihren Geist sickerte, wie das kalte Wasser in einen porösen Felsen, aber sie war gezwungen, es zu ignorieren.
Sie stieß sich ab, die Luft war dick, sie taumelte und fiel die letzten Schritte in Richtung des Schachts, ein Ende in der Kakophonie der Drohnen. Sie sank mit dem Rücken gegen die feuchte, rostende Metallplatte, fand die kleine Konsole, die dort in die Wand eingelassen war. Ihre Anzeigen flackerten im roten Notlicht.

Das Interface der Konsole befand sich in einem jämmerlichen Zustand, die Tasten waren abgenutzt, der Bildschirm gesprungen. Die Finger ihrer linken Hand tanzten über das alte Interface, den Blaster in der rechten auf den Eingang des Schachts fixiert, während Voss die Deaktivierungssequenz mit gnadenloser Präzision in ihr Bewusstsein pumpte. Sie tippte, so schnell sie konnte.

„Fehler. Bitte Neueingabe.“ quittierte die Konsole mit einer blechernen Stimme, während das rote Licht der Drohnen näher rückte.

Juno fluchte leise. „Fuck! Nochmal!“ Ihre Finger rasten über die Tasten.

„Sequenz… 4-Sigma-7-Delta! Präzision, Juno!“ wiederholte Voss, seine Stimme scharf und eindringlich in ihrem Kopf, eine Welle purer Panik übertragend, die nicht ihre eigene war.

„Ja, verdammt! Ich mach ja schon!“ Sie tippte die Zahlen erneut, ihre Muskeln angespannt wie ihr Geist.

Es war ein verzweifelter Wettlauf gegen die Zeit. Die Drohnen feuerten unaufhörlich, ihre bedrohlichen Zischlaute die an eine Schlangengrube erinnerten hallten durch den Raum. Zwischendrin dass donnernde bellen von Sams mächtiger Antwort-Flinte.

„Verdammt, mach schneller!“, brüllte Samuel, seine Schüsse waren nun ebenfalls ganz nah und hallten bedrohlich durch den Schacht.

Ein scharfer Schmerz durchfuhr Junos Schulter, ein Energieschuss streifte sie. Ihre Ticon fiel zu Boden. Sie spürte, wie die Haut schmolz, es roch süßlich, seltsam, eine Mischung aus verbranntem Fleisch und Zucker. Sie ignorierte diesen stechenden Schmerz, konzentrierte sich nur auf die flackernde Konsole vor ihr.

Eine Reihe von Klicks, dann ein längeres Summen, das anders war, weniger bedrohlich. Dann ein tiefes, erlösendes Stöhnen der alten Systeme. Die roten Lichter in der Kammer erloschen, das bedrohliche Summen der Drohnen verstummte abrupt als sie zeitgleich zu Boden fielen und mit einem letzten, metallischen Knistern auch ihre optischen Sensoren erloschen. Von Crescendo zu einem orchestrierten, finalem Fortissimoschlag. Die plötzliche Stille war fast ohrenbetäubend.

„Uff“, Samuel kam keuchend an den Schacht, seine Plasma-Schrotflinte noch im Anschlag. Die Welle des Adrenalins, die ihn gerade noch getragen hatte, wich einer beruhigenden Ebbe. Er sah auf ihre Schulter, die angesengte Kleidung rauchte. „Eine ist dir hinterher. Das war verdammt knapp. Schön, dass dein Ghost auch manchmal genaue Anweisungen gibt, auch wenn er dich erst fast grillt.“ Ein schiefes Grinsen huschte über sein rußgeschwärztes Gesicht. Er blickte sich um. „Und jetzt?“

Juno steckte ihre Ticon, die neben ihr lag wieder in ihr Holster. Die winzige Handfeuerwaffe, verglichen mit Sams monströsem Ungetüm glitt geräuschlos an den integrierten Ladeport. „Hab ich mir aus den Überresten von sechs anderen MK3 zusammengebaut,“ sagte sie, ohne einen einzigen Blick darauf zu werfen.

„Ein alter, kalibrierter Militech Schock-Blaster. Die Dinger sind für Datarunner, die wissen, dass sie nicht überleben, wenn der erste Schuss nicht sitzt. Kein Schnickschnack, keine nutzlose Elektronik. Nur ein Smartgun-Link.“ pflichtete Sam ihr bei.

Er lehnte seine Goliath mit einem dumpfen, klirrenden Geräusch an die Wand. „Du brauchst ein Chirurgenmesser, um die Leute leise wegzuschalten,“ sagte er und lachte spöttisch. „Ich brauche eine ganze fucking Abrissbirne. Das Ding hier ist so simpel wie ein Hammer. Ein kleiner Plasmakern, ein Bündel von Magnetspulen, ein Auslöser. Es ist so primitiv, dass es immer funktioniert, egal was passiert. Es sprengt nicht nur Löcher in Wände, es löscht auch die Erinnerung an die Scheiße, die du tun musstest.“

Er strich mit seinem Handschuh, der mit den Chrom-Elementen in seinem Gesicht seltsam harmonisch korrespondierte, über den groben Griff. „Es ist die einzige Waffe, die ich jemals gebraucht habe, um mich von den Bullshit-Regeln dieser Welt zu befreien. Du verlässt dich auf deine Technologie. Ich verlasse mich darauf, dass ich weiß, wie es ist, am Arsch zu sein.“

Juno senkte den Blick fragend in Richtung Sams vollgepackten Gürtel. „Ja, okay – die beiden fetten Raijin SMGs nutze ich auch – hier und da!“ schickte er leicht patzig nach. Sein Gesichtsausdruck wandelte sich erneut zu einem schiefen Grinsen. „Jede Wette, Du hast auch noch irgendwo ein Ass im Ärmel. Also auf, weiter! Sonst mach ich es mir hier nur zu gemütlich. Wieder blind ins Schwarze, oder hat unser Navigator noch mehr magische Pfade?“

Juno rieb sich die schmerzende Schulter, der süßliche Geruch des verbrannten Fleisches hing ihr noch in der Nase. Ein leichter Schauer lief ihr über den Rücken – nicht nur wegen der Kälte, sondern weil Voss sie wieder gerettet hatte, auf seine unheimliche, berechnende Weise. „Nicht blind, Samuel. Er hat uns nicht in eine Falle geführt. Er hat uns getestet. Oder er war blockiert, bis wir die Verteidigung ausschalten. Ist so ein Gefühl, eine Ahnung“ Sie blickte in die Tiefen des Schachts. „Was auch immer es war, wir sind noch am Leben. Und er weiß, wohin.“

Voss’s Pfad flackerte wieder auf, stärker und klarer als zuvor, und zeigte auf einen noch tieferen Abstieg, eine Rampe, die in die Eingeweide der Erde führte. „Tief. Tiefer. Shibuya. Dort, wo die Wurzeln des Protokolls liegen. Es wird dunkel sein. Es wird kalt sein. Aber es ist der einzige Weg.“

Juno nickte. „Nach unten. Scheint unser Schicksal zu sein.“ Die Luft wurde kälter, feuchter. Der Pfad führte sie in eine Welt der absoluten Stille, ein architektonisches Grabmal, das einst unter dem damals pulsierenden Herz von Tokyo gebaut worden, jetzt aber nur noch ein vergessenes Echo war, in dem sich die gefährlichsten Überreste des OldNet verbargen.

Die Schwingungen des Abgrunds schienen Junos Armimplantat wie ein altes Relikt vibrieren zu lassen. Die Kälte kroch durch ihre Gelenke, eine langsame, klamme Berührung, die die Präzision ihrer Kybernetik zu bedrohen schien. Sie spürte, wie ihr Atem an den Rohren gefror, die wie Knochen eines vergessenen Monsters über ihnen ragten. Die schmale Rampe wurde zu einem glitschigen Weg, gesäumt von Kabelbündeln, die von der Decke hingen wie Lianen in einem toten Dschungel. Das schwache Licht von Voss’s Pfad wurde von einer Dunkelheit verschluckt, die nicht nur die Abwesenheit von Licht war, sondern eine eigene, greifbare Masse, schwer und muffig.

Nach dem Abstieg bewegten sie sich durch die stillgelegten Adern des alten U-Bahn-Systems, die Gleise von dicken Schichten Geröll, umhüllt von Staub und Synth-Asche bedeckt. Die Luft schmeckte eindeutig metallisch und nach etwas, dass an verrottetes Plastik erinnert.

Jeder Schritt hallte in der unendlichen Leere, ein Geräusch, das zu laut schien, ein unwillkommener Eindringling in die Grabesruhe. Junos kybernetisches Auge passte sich an, aber selbst die verstärkte Nachtsicht konnte nicht mehr als die unmittelbare Umgebung enthüllen, eine flackernde, grünliche Darstellung von Rost und Verfall.

„Diese Orte“, murmelte Samuel, seine Stimme war nur ein Flüstern. „Die haben sie versiegelt. Alle Zugänge verschüttet, um die alten Protokolle zu begraben. Wie ein Grab, von innen und außen gleichermaßen versperrt.“

Voss’s Pfad war das einzige Zeichen von Leben, eine pulsierende, violette Vene, die sie in die Tiefe zog. Der Pfad selbst war hier keine Lichtspur, sondern eine Anordnung von Datenpartikeln, eine visuelle Manifestation von reiner Information, die nur sie sehen konnte. Die „Wurzeln des Protokolls“, dachte Juno, waren nicht in der Wolke, sondern hier unten. In dem kalten, stinkenden Untergrund, wo die Überreste der alten Welt noch immer existierten, ungesehen und unkontrolliert. Sie fühlte sich, als würde sie nicht nur in die Erde absteigen, sondern in die Vergangenheit selbst, in die verdorbenen Gebeine der Zivilisation. Voss hatte sie nicht nur in Sicherheit geführt, sondern auch in die Geburtsstätte des Chaos, dessen Echo sie jetzt jagte.

Sie glitten tiefer in das architektonische Grabmal hinab. Eine alte Rampe mündete in eine riesige, kathedralenartige Halle, die von massiven, rostigen Stahlträgern gehalten wurde, die wie Knochen aus den Wänden herausragten. Das monotone Grollen der Stadt über ihnen war hier nur noch ein fernes, unheimliches Rauschen, eine ferne flüsternde Welle auf dem Ozean der Stille. Überall hier wuchsen seltsame, schimmelige Pilze, die in der Dunkelheit biolumineszent leuchteten, und ein feiner, kalter Nebel, der nach alten Kabeln und verrottender Materie roch, hing in der Luft.

Junos kybernetisches Auge scannte die Umgebung, um nach versteckten Drohnen, Kameras oder Fallen zu suchen, aber fand nichts. Kein einziges digitales Signal, kein einziges leises Summen von laufender Elektronik. Es war die Stille der totalen Isolation, die Stille eines Ortes, den selbst die Megacity vergessen hatte.

Samuel schüttelte sich. „Ich fühle mich… irgendwie nackt“, raunte er. „Kein Funk, kein Signal, nichts. Hier sind wir allein.“

Juno nickte. „Ich fühle es auch.“

Voss’s Pfad pulsierte stärker, seine Partikel verdichteten sich zu einer Art unheilvollem Herzschlag, der in eine der dunkleren Ecken der riesigen Halle zeigte. Dort, wo sich einst ein Versorgungsschacht befand, war jetzt nur noch ein mit Schutt und Kabeln halb verstopfter Durchgang, eine klaffende Wunde im Boden. „Hier“, sagte die Stimme in Junos Kopf, klarer als je zuvor, aber ohne einen Hauch von Wärme.

Juno und Samuel tauschten einen Blick aus, zwei Leidgenossen, die die gleichen Sorgen teilten. Keine Flucht mehr, sondern eine Reise in das Unbekannte, in die vergessenen, dunklen Eingeweide der Stadt, deren Geheimnisse sie bald zutage fördern würden.

Versammlung

Das Licht ein stilles Flackern, ein warmer Goldton, der die kühlen, grauen Oberflächen des virtuellen Cyber-Chashitsu Teeraums fast real wirken ließ. Dies war eine flüchtige Architektur für hochrangige Korporationsvertreter gedacht, die sich physisch nicht treffen können, aber eine Umgebung der absoluten Kontrolle und Ästhetik benötigen. Eine Ikebana-Anordnung aus fluoreszierenden Orchideen schwebte in der Mitte der Nische, ihre synthetischen Blütenblätter vibrierten leicht im Rhythmus eines unhörbaren Datenstroms. Es war eine Insel der Ruhe, ein künstlicher Hort der Tradition inmitten des stürmischen Datenmeers. Hier, in dieser digital nachgebildeten Version eines alten Kyoto-Teehauses, trafen sich die Avatare der Mächte.

Auf der einen Seite, mit der Aura des Raums selbst verwoben, saßen die Vertreter von BioDyne. Ihr Sprecher, ein Mann mit dem Avatar eines alten Samurai-Meisters, dessen Gesichtszüge unter dem Einfluss des Cyberware zu einem stillen, stoischen Ausdruck erstarrt waren, nippte an seinem virtuellen Tee. Jeder Schluck war präzise, jede Bewegung seiner digital generierten Hand elegant. Man konnte die kalte, berechnende Intelligenz hinter seinen Augen spüren, die durch das kybernetische Alter nicht gemildert, sondern geschärft wurde.

Ihm gegenüber saßen die Avatare von OmniTech, geformt nach den gängigen Standards der Corporate Elite: glatt, scharfkantig, mit einem Hauch von synthetischer Überlegenheit. Ihr Vertreter, eine Frau mit einem perfekt modellierten Avatar, dessen Augen ein kühles, berechnendes Licht aussandten, hielt ihren virtuellen Teebecher mit einer fast schon spürbaren Anspannung. Die Multiplex-Hologrammpartikel in ihrer Tasse tanzten, als würden sie ihre eigene innere Unruhe widerspiegeln.

Ein sanftes Summen erfüllte den Raum, als die Projektion, die die ganze Mitte des Raums einnahm, zum Leben erwachte. Es war kein einfaches Display, sondern eine holografische Projektion, die sich wie ein flüssiger Datenstrom in den Raum ergoss. Die Ikebana-Orchideen leuchteten heller, die goldenen Verzierungen der Teetassen pulsierten im Takt. Ene direkte Übertragung, nicht nur von Daten, sondern von Emotionen, von der kalten Wut und der verzweifelten Suche, die sich in jedem Pixel spiegelte.

Ein Datenfeed begann zu fließen, eine Textrolle aus Kanji und englischen Zeichen, die sich durch den Raum zog, gefolgt von einer Holo-Simulation der Aufzeichnung des Gesprächs zwischen David Carver und Clare Chase.

OMNITECH INTERNAL COMMUNICATION LOG //
CLASSIFIED // LEVEL 5 ACCESS REQUIRED
SAD DIVISION – OFFICE OF CLARE CHASE // DATE: [T-12H]

CARVER, DAVID (D.C.) – #3, OmniTech Executive Board
CHASE, CLARE (C.C.) – Executive Administrator, Special Acquisitions Division (SAD)

D.C. verhört C.C. über den Verbleib von HARRISON WEBB (H.W.) – #2, OmniTech Executive Board. H.W. wurde zuletzt heute Morgen gesehen. Webb’s aktueller Aufenthaltsort: Unbekannt

Die ruhige Atmosphäre des Teeraums zerbrach, als die Projektion der Aufzeichnung einsetzte.

Die holobasierten Überwachungskamera-Feeds flackerten auf und zeigten David Carver, der wie ein wütender Stier durch ein Großraumbüro stürmte. Jeder, der diesen Raum je betreten hatte, würde das Déjà-vu spüren, die kalte Luft der Klimaanlage, das leichte Summen der Server, das Geräusch der Tastaturen, die in einem makellosen Rhythmus klickten.

Die Avatare der Manager zuckten unmerklich zusammen, als Davids Stimme durch den virtuellen Raum hallte: „Wo verfickt und zugenäht ist Harrison Webb?!“

Die Projektion schwenkte auf Clare Chase. Ihre Gestik, ihre Gesichtszüge, alles wurde pixelgenau reproduziert. Man konnte das Zögern spüren, das Schlucken, bevor sie ihre Antwort gab. Die Art, wie sie sich räusperte, war so echt, dass es einem durch Mark und Bein ging. Jeder Manager im virtuellen Teeraum, der diesen korporativen Tanz kannte, konnte die Angst in ihren Augen sehen, die dann von kalter Entschlossenheit abgelöst wurde, als sie David in ihr Büro führte.

Die holografische Darstellung verlagerte sich in Clares Büro. Das dicke Glas der Fenster, die auf die majestätische, sich ausbreitende Stadt San Angeles blickten, war so klar und detailliert, dass man das Gefühl hatte, selbst dort zu stehen. Die subtile Vibration der Privacy Tapper gegen das Glas war nicht nur hörbar, sondern fühlbar. Man sah, wie Davids Herzschlag sich verlangsamte, seine Wut in etwas Kälteres, Gefährlicheres überging.

Der Code schnitt zu einer neuen Szene. Clare Chase, ihre Stimme ruhig, aber mit einem Hauch von Stahl versehen, konfrontierte Carver. Er hielt ein Komm-Gerät in der Hand, eine flache, schwarze Scheibe.

(C.C.): „David, was ist das Problem?“

Das Protokoll-Fenster zeigte einen Klon-Befehl an, der auf ihr eigenes Gerät übertragen worden war.

(D.C.): „Wo… ist… Harrison?! Das darf nicht als einer der größten Misserfolge in der Geschichte der Megakonzerne eingehen“, knurrte David, und sein Verhalten nahm kurzzeitig wieder das des wütenden Stiers an.

(C.C.): „Ich weiß es nicht. Ich habe ihn seit…“

(D.C.): „…seit …was?!

(C.C.): „Wir haben vorgestern die Nacht zusammen verbracht. Daran ist nichts falsch, und ich weiß nicht, warum ich mich dir gegenüber verteidigen muss. Bist du deshalb so in meine Abteilung geplatzt? Du hast kein Recht, mir vorzuschreiben,…“

(D.C.): „Es ist mir sowas von scheißegal, wen Sie ficken, Miss Chase“, unterbrach David, unterschwellig beleidigt und zugleich mit tiefer Verachtung, verstärkt durch den Wechsel der Anrede.
„Es ist mir völlig egal, ob Sie eine keusche Nonne sind, die jeden Sonntag den Armen einen runterholt oder für jeden Mann und jede Frau in diesem Gebäude die Beine breit macht, von der Sanitäranlage unten bis zu den Landeplatztechnikern oben und auf allen Stockwerken dazwischen. “

(C.C.): „Mir ist das nicht egal!“ erwiderte Clare mit spitzen Lippen, während ihr Avatar an Ihrem Schreibtisch krampfhaft nach Halt suchte.

(D.C.): „Das ist mir wichtig! Ich habe gehofft, Du wüsstest von dieser List.“

Sobald David seine Hand ausstreckte und den schlanken metallenen Schlüssel des persönlichen Komms präsentierte, blitzte ein fast unmerklicher Hauch von Gold in der Projektion auf.

(C.C.): „Er hat sein Komm auf meins geklont?“

(D.C.): „Mehr als das… er hat alle Verfolgungs- und Überwachungsdaten von ihm auf Dich übertragen.“

Die Worte waren wie eine kalte Dusche. Die Avatare in der Teestube wurden unbeweglich. In der Megacorp-Welt gab es keine schlimmere Strafe, als zu einer wandelnden Datenbank der Geheimnisse eines anderen zu werden. Es war eine Art der Demütigung, die fast so tiefgreifend war wie der Tod selbst.

(C.C.): „Dieser Mistkerl!“

Als die Aufzeichnung von Clare ihre Faust gegen das Glas ihres Schreibtisches schlug, war das Geräusch im virtuellen Raum überraschend scharf, ein unerwarteter Schock der sich wellenförmig ausbreitete.

(D.C.): „Ich hatte gehofft, dass es ein kleines Spiel wäre, ein Plan, um mir vor der Unterzeichnungszeremonie morgen Abend einen Herzinfarkt zu verpassen; es wäre typisch für ‚Harry‘, meinen Job noch schwieriger zu machen. Oder zumindest, mich durch meine Überwachungsteams zu informieren, dass er jetzt meine Frau fickt.“

(C.C.): „EX-Frau!“ korrigierte Clare

(D.C.): „Wo ist er, Clare?“

(C.C.): „Ich weiß es nicht… aber ich werde ihn suchen.“

Die Avatare der Manager im Teeraum sahen sich nicht direkt an, aber die leichte Verengung ihrer virtuellen Pupillen, die minimale Veränderung der Farbintensität ihrer Avatare, verriet ihre Anspannung. Sie wussten, es bedeutete nichts gutes, wenn ein Konzern-Chef seine Überwachung auf eine andere Person umleitete, eine digitale Todesanzeige.

Die letzten Worte von Clare hallten im Raum wider, als David stürmisch das Büro verließ und sein persönlicher Smoker ihm dicht auf den Fersen folgte:

(C.C.): „Was hast du vor, Harry?“

[DATENFEED ENDET]

Die holografische Projektion erlosch, und die Ikebana-Orchideen kehrten zu ihrem gedämpften Leuchten zurück. Das sanfte Summen der Datenströme füllte den Raum erneut. Die Teeschalen blieben unberührt. Die Vertreter von OmniTech und BioDyne saßen in stiller Betrachtung. Die virtuelle Wärme wich einer eisigen Realität.

Jeder Avatar in diesem Raum kannte Harrison Webb, ein Consigliere in Kriegszeiten in einem Geschäft, in dem alles Krieg ist. Doch mehr noch: Harrison Webb war dem Unternehmen bereits seit über 70 Jahren treu ergeben. Er sah zwar aus, als wäre er in den Fünfzigern, aber dank zahlreicher Anti-Aging-Mittel war er schon über neunzig. Die meiste Zeit davon verbrachte er damit, die Interessen anderer zu verteidigen. Ein Dieb, ein Mörder und noch Schlimmeres. 1A Führungsqualität. Eine Ein-Mann-Truppe schmutziger Tricks; eine Macht hinter dem Thron, aber ein Mann, der ihn niemals selbst besteigen würde. Sein Aufstieg ins C-Level von OmniTech war quasi unvermeidbar. Man könnte sogar sagen, er war der Corp gegenüber in allen Maßen hingebungsvoll zugedacht.
Dieser Mann war nicht einfach verschwunden. Er hatte sich selbst in ein Kintsugi-Meisterwerk verwandelt, indem er die Bruchstellen seiner Loyalität mit dem Gold des Verrats ausfüllte. Und die Fusion, die OmniDyne schaffen sollte, hing nun an einem seidenen, digital gesponnenen Faden.

Der Samurai und die Executive setzten beide gleichzeitig an, die ohrenbetäubende Stille zu durchbrechen. Mit einem angedeuteten Nicken überließ er Ihr den Vortritt. Sein einzig exponiertes Tattoo, die Silhouette eines fliegenden Kranichs, das langsam unter der Haut pulsierend aufleuchtete, als wenn sein Schmerz unerträglich wird, schrie jedoch seine Anspannung in den Raum. Dies war sein Kampf um die innere Würde in einer Welt, die alles versucht, um sie einem zu nehmen. Der wahre Kampf ist nicht nur auf der Straße, sondern immer auch im eigenen Kopf.

„Diese Information bleibt als L5 Classified eingestuft. Sie werden niemand sonst informieren, zentrale Datenerfassung durch OmniTech Archology SAD Departments und die Koordination erfolgt ausschließlich über Col. Lancaster im X4K. Ich muss hoffentlich niemand daran erinnern lassen, was auf dem Spiel steht.“

Ohne ein einziges Wort verließen direkt im Anschluss die Avatare der beiden Seiten den virtuellen Teeraum, bis schließlich nur noch die synthetischen Blütenblätter der fluoreszierenden Orchideen als stille Zeugen dieses Meetings, als ein optischer Algorithmus der Schönheit im virtuellen Raum verblieb. Ihr synthetisches Leuchten war ein stilles Versprechen, dass selbst in der Dunkelheit von Verrat und Machtspielen noch eine perfekte, kalte Logik existierte.

Daten-Netz

Kai Renjiro hasste Sektor 12 von Minute zu Minute mehr. Den Gestank, das Chaos, die menschliche Verzweiflung. All dass, was sich in jeder verrosteten Leitung und jeder schreienden Stimme, jedem zerfallenen Heim und all den organischen Überresten manifestierte. Er bevorzugte die sterile Reinheit eines BioDyne-Labors, die kühlen, logischen Abläufe einer Datenanalyse. Doch seine Mission führte ihn unweigerlich hierher, in das Herz der menschlichen Unordnung. Seit der Entdeckung von Junos zerstörtem Versteck verfolgte er die subtilen Spuren, die eine Datenläuferin und ein ehemaliger Syndicate-Enforcer hinterlassen hatten, ohne zu wissen wem genau er da auf den Fersen war. Es war keine Jagd mit Klingen oder Schusswaffen, sondern eine Jagd der Logik, der Forensik.

Für einen Moment konnte er dem Sektor entkommen. Aris hatte ihm einen gepanzerten BioDyne-Transporter, der unauffällig hinter einem Hügel nahe seines Einsatzgebiets geparkt war geschickt. Dessen Sensoren scannten die unzähligen illegalen Funksignale, die aus dem Slum quollen wie Rauch. Vor ihm, auf einem holographischen Display, flimmerte auch ein 3D-Modell des Rattenlochs unterhalb der verlassenen Synth-Fleisch-Fabrik, gespickt mit Datenpunkten und potenziellen Fluchtwegen.

„Status-Update, Aris“, sagte Kai in sein Headset, seine Stimme war kühl und kontrolliert. „Irgendwelche Abweichungen im Muster der OmniTech-Patrouillen?“

„Negativ, Renjiro“, Aris‘ Stimme war klar und präzise, leicht verstimmt durch die Kompressionsalgorithmen der Langstrecken-Kommunikation. Sie war seine primäre Informationsquelle, eine der besten BioDyne-Analystinnen, deren neuronale Netzwerke fast so schnell waren wie die von Kai selbst.
„Colonel Lancaster drängt immer noch auf eine vollständige Säuberung von Sektor 12. Auswertung der Kommunikation ihrer Teams zeigen eine 87%ige Ineffizienz. Ihre operative Strategie ist statisch, konzentriert sich auf die Hauptarterien und ignoriert die sekundären Netzwerke. Ihre Präsenz beschränkt sich auf die oberen Sektorebenen. Sie suchen nach Webb im Umkreis größerer Energieknoten. Keine unmittelbare Bedrohung für Ihr Infiltrationsprofil.“

„Gut“, Kai nickte. „Um Webb zu finden gehe ich anderen Spuren nach. Wen wir suchen, was wir suchen, dass sind nicht die Art von Zielen, die sich auf den Hauptstraßen bewegen. Sie sind Schatten. Ich habe das Verbrennungsmuster in diesem hochgejagten Hinterzimmer analysiert – eine Signatur, die auf eine überlastete Energiequelle hindeutet, etwas Individuelles, nicht Standard-Syndikat. Eine individualisierte Dataport-Abdeckung. Dazu in der Nähe noch Spuren von einem älteren Modell eines militärischen Bio-Dämpfer. Ich bin mir sicher, dass sie sich nach dem Chaos auf den Straßen dort in Richtung Rattenloch zurückgezogen haben müssen. Es ist der einzige Ort, der chaotisch genug ist, um sich zu verstecken, und doch organisiert genug, um eine Flucht zu ermöglichen.“

„Bestätigt. Unsere Datenbanken verifizieren das Profil ‚Pox‘, einen ehemaligen Netzwerkhacker und Betreiber illegaler Glücksspielknoten.“

„Pox“, murmelte Kai. Ein bekannter Faktor. „Er ist der Schwachpunkt. Informationen können verkauft, erpresst oder… durch Nachdruck preis gegeben werden.“ Kai blickte auf das 3D-Modell. „Zeigen Sie mir die thermischen Signaturen der unterirdischen Anlagen. Und kreuzen Sie sie mit den Aufzeichnungen der Überwachungskameras der letzten Stunden. Ich will alle Anomalien, alle Gesichter, die nicht in die üblichen Bewegungsmuster passen.“

Aris‘ Stimme wurde lebendiger. „Verarbeitung läuft. Eine schwache, aber persistente Signatur, die mit einer improvisierten Multi-Hop-Modulator-Technologie übereinstimmt, wurde detektiert. Standortlokalisierung ist ineffizient. Die Bewegung deutet auf eine Verlagerung in tiefer gelegene Zonen innerhalb von Sektor 12. Alle verfügbaren Daten werden übertragen.“

Kai’s Augen leuchteten auf. Das war es. Eine Spur. „Der Modulator. Das muss es sein. Es ist speziell, selbst für einen alten Hacker wie Pox. Hat er möglicherweise Webb mit so etwas ausgestattet?“ Er stand auf, seine Bewegungen waren flüssig und präzise. „Aris, halten Sie die OmniTech-Teams im Auge. Ich infiltriere das Rattenloch. Ich werde Pox befragen und diese Spur sichern.“

Er verließ den Transporter, seine taktische Rüstung, so dunkel wie die Schatten selbst, verschmolz mit der Dämmerung des Slums. Sein cybernetisches Obsidian Auge scannte die unzähligen Gassen, die ihn in die Eingeweide des Rattenlochs führen würden. Die Luft wurde sofort dicker, der Lärm lauter, das Chaos allgegenwärtig. Kai atmete den Gestank ein, der nun zu einer notwendige Übelkeit wurde. Er war der Jäger, und er hatte seine Beute gewittert.

Spieleinsatz

Das Rattenloch galt in Sektor 12 als der brodelnde Hexenkessel par excellence: Licht, Laster, Lust und der süßliche Geruch von synthetischem Alkohol und billigem Cybergras – was für ein Spektakel! Pox’s Spielhalle, tief in den Eingeweiden darunter verborgen, war das urgemütliche Epizentrum dieses Chaos für jeden Glücksritter. Neonreklamen flimmerten über den Köpfen und warfen bunte Schatten auf die verschwitzten Gesichter der Spieler, die sich um flackernde Holo-Tische drängten. Das aufregende Klappern von Cyber-Chips, das Gemurmel von Geboten und das verzerrte Lachen der Verlierer füllten den Raum.

Pox war rein optisch ein faszinierender alter Mann. Keinerlei Bodymods waren bei Ihm ersichtlich, nicht einmal ein einfaches Optikmodul. Wäre seine restliche Erscheinung nicht so extrem, könnte er als ein entfernter Onkel auf jeder beliebigen Familienfeier durchgehen. Das personifizierte Allerweltsgesicht. Keinen einzigen Zahn hatte er mehr, dafür aber einen verwilderten Bart und seine ständig grinsende Miene stellte die fehlenden Zahnreihen dauerhaft zur Schau. Immer gut gelaunt und jederzeit einen derben Spruch auf den Lippen parat könnte einmal die Inschrift auf seinem Grabstein lauten. Er saß an einem zentralen Terminal, der kernige König dieses faszinierenden Untergrundreiches, ein Meister der Manipulation und der digitalen Irreführung.

Kai Renjiro glitt durch die Menge, eine Insel der Stille inmitten des Sturms. Seine BioDyne-Rüstung war auch hier auffällig unauffällig, seine Bewegungen fließend. Er scannte jeden Winkel, jedes Gesicht, jede versteckte Kamera. Pox war nicht schwer zu finden. Sein Ruf war ihm vorausgeeilt, und die Ansammlung von Spielern um ihn herum war ein fast so deutlicher Hinweis wie das zahnlose Grinsen.

Pox sah Kai kommen, seine Augen blitzten amüsiert auf. Ein weiterer Konzern-Schnösel, der glaubte, er könne sich hier unten Respekt verschaffen. Pox hatte schon Dutzende von ihnen abgewimmelt, natürlich erst nachdem er sie nach Kräften ausgenommen und abschließend mit falschen Informationen in die Irre geführt hat. Er sah Kai’s unauffällige, aber teure Ausrüstung, die Präzision seiner Bewegungen. Ein Profi. Aber Kai war in seinem Reich.

„Na, Freundchen“, Pox’s Stimme war kratzig, aber herzlich. „Verlaufen? Oder suchst du etwas Bestimmtes in meinem bescheidenen Etablissement? Vielleicht ein bisschen Glück an den Tischen?“ Er winkte Kai zu sich. „Komm, nimm Platz. Ein Drink auf Kosten des Hauses. Siehst aus, als könntest du einen gebrauchen.“ Er schob einen Becher mit dampfendem, grünlichem Synth-Ale über den Tisch.

Kai setzte sich, seine Miene unbewegt. Er roch den süßen Geruch des Alkohols, der ihm viel zu chemisch schmeckte. Er nahm dennoch einen kleinen Schluck. „Ich suche Informationen, Pox. Über ein paar… alte Bekannte von mir. Ich suche einen Datenläufer und seinen Militärkumpel.“

Pox’s Grinsen wurde breiter. „Ah, die Lieblinge des Systems. Immer auf der Flucht. Ich habe viele solcher Leute gesehen. Sie kommen und gehen. Wer genau suchst du? Namen, Gesichter? Hier unten sind die meisten von ihnen nur Geister.“ Pox spielte das Spiel, gab vor, ahnungslos zu sein, während seine internen Prozessoren bereits eine Strategie entwickelten. Er würde Kai in die Irre führen, ihn mit Nebelkerzen überhäufen und ihn dann mit leeren Händen wegschicken.

„Vorhin erst, keine Stunde her“, sagte Kai präzise, sein Blick fest auf Pox gerichtet. „Sie waren hier.“

Pox lachte, ein gutturales, kehliges Geräusch. „Gerade eben erst? Ne, keiner vorbei gekommen. Meine alten Rabauken! Ja, die waren mal hier. Vor… Tagen, vielleicht Wochen. Haben ein bisschen Ärger gemacht, ein paar Köpfe eingeschlagen, übliches Zeug. Sind aber schon lange weg. Haben sich wohl in den Norden abgesetzt, Gerüchten zufolge. Das kalte Klima soll gut sein für alte Gelenke.“ Er zwinkerte Kai zu. „Aber ich habe gehört, die OmniTech-Jungs suchen die immer noch. Arme Schweine. Komm, spiel eine Runde Würfel mit mir. Wenn du gewinnst, erzähle ich dir alles, was ich über ‚Geister’ weiß.“

Pox schob ein Set aus glitzernden, holographischen Würfeln auf einer runden, mit einem Polymertextil überzogener Spielfläche quer über den Tisch. Kai, der die Ablenkung erkannte, spielte mit. Er brauchte Pox, um sich sicher zu fühlen. Sie würfelten, Pox gewann ein paar Runden, lachte laut, erzählte Anekdoten über Junkies, Söldner und Runner, die sich angeblich im Norden versteckt hielten. Kai analysierte Pox’s Mikroexpressionen, die subtilen Zuckungen seiner Augen, das Tempo seines Atems. Er war gut, aber nicht perfekt. Pox versuchte, Kai dazu zu bringen, sein Spiel zu ändern, ihn zu manipulieren, wie er es bei allen anderen tat. Doch Kai blieb stoisch.

Während Pox gerade eine weitere Anekdote über einen angeblichen Fluchtversuch im Nordsektor sponn und auf seinem Arm-Interface eine Freigabe für einen Einsatz für einen anderen Tisch bestätigte, flackerte auf diesem kleinen, kaum sichtbaren Terminal kurz eine eingehende Nachricht auf. Es war Augusto. Der Bildschirm war so ausgerichtet, dass nur Pox ihn sehen konnte, aber Kai’s kybernetisches Auge scannte den Raum und fing einen flüchtigen Blick auf die Zeilen in einer Spiegelung vom leeren Glas neben Pox ab, die für wenige Millisekunden aufblitzten, bevor Pox sie weggewischt hatte: <URGENT> X: J/S OTW | MODAKTIV | 渋谷CONF | AUGUSTO

Pox’s Lachen erfüllte weiter den Raum. Seine Augenlieder zuckten jedoch mehrmals, nur den Bruchteil einer Sekunde, eine unkontrollierte Reaktion, die Kai dennoch sofort registrierte. Pox’s Grinsen wurde breiter, aber es war nun gezwungen, seine Augen waren leer. „Nun, mein Freund, der Einsatz steigt! Ich glaube, das Glück ist heute nicht auf deiner Seite.“ Er hob seine Hände, um demonstrativ die Würfel neu zu mischen, aber Kai sah, wie auch seine Finger dabei kurz zitterten.

Die Atmosphäre änderte sich. Kai spürte Pox’s plötzliche Verzweiflung, die kalte Angst. Der kurze Blick auf die Nachricht hatte ihm mehr verraten als jede Stunde der Verhöre. Shibuya, Modulator. Das war die Verbindung, die Pox so verzweifelt zu verbergen versuchte. Kai wusste, dass Pox oder auch der Absender Augusto sich eher die Zunge abbeißen würden, als die Wahrheit zu enthüllen. Aber sie hatten sie ihm gerade auf dem Silbertablett serviert.

Fehlkalkulation

Kai Renjiro verließ Pox’s Spielhölle, ohne sich noch einmal umzusehen. Er war nicht gegangen, er war strategisch zurückgewichen. Die laute, chaotische Umgebung, die Pox als Deckung nutzte, wurde zu einem Lärm für Kai’s Gedanken. Er fand eine ruhige, verlassene Nische zwischen zwei überfüllten Container-Lagern, in der der Geruch von billigem Synth-Rauschmitteln nur schwach in der Luft lag. Hier konnte er die Informationen, die er gesammelt hatte, in Ruhe verarbeiten.

Sein kybernetisches Auge projizierte die flüchtige Nachricht, die er auf Pox’s Terminal gesehen hatte, in sein internes Sichtfeld. <URGENT> X: J/S OTW | MODAKTIV | 渋谷CONF | AUGUSTO
Er ließ die Worte rotieren, analysierte die Syntax, die verwendeten Codenamen. „Modulator“ – das bestätigte seine Theorie über die improvisierte Technologie. Die alten Kanji für „Shibuya“ – ein geografischer Hinweis. Auch Augusto war ihm kein Unbekannter. Zu dem laut Datenblättern klassifizierten ’spirituellen Technomancer‘ hatte BioDyne bereits eine ausführliche Akte. Aber die entscheidende Variable war die Annahme, die er basierend auf seiner Mission und den Prioritäten von BioDyne traf.

„Aris, Status-Update“, sagte Kai in sein Headset, seine Stimme war erfüllt von einer neuen, kalten Gewissheit. „Ich habe Pox befragt. Er hat versucht, mich in die Irre zu führen. Aber ich habe etwas Entscheidendes erfahren.“

„Renjiro, Sie klingen – anders“, bemerkte Aris. „Erfolgreich?“

„Höchst erfolgreich“, erwiderte Kai. „Verfolge 2 Individuen, Datenläufer und Militär. Sie sind tief in Sektor 12 unterwegs, ich vermute auf dem Weg zu den alten Shibuya-Archiven. Und ich wette, sie nutzen diesen einzigartigen Modulator.“ Kai rief Daten auf seinem Display auf, kreuzte die Informationen mit den bekannten Standorten von Hochsicherheitstrakten und geheimen F&E-Einrichtungen, die BioDyne früher in den alten Sektoren in und um Shibuya unterhalten hatte. „Der wichtigste Punkt ist: Sie sind involviert.“

„Involviert?“, fragte Aris, ihre Stimme nun schärfer.

„Mit Harrison Webb“, sagte Kai mit fester Überzeugung. Seine Logik war unerbittlich, auch wenn sie auf einer fatalen falschen Annahme basierte.

„BioDyne hatte bisher keine Spur von Webb. Auch OmniTech sucht verzweifelt nach ihm. Es ergibt nun alles Sinn. Sie haben Webb. Vielleicht haben sie ihn entführt, um ihn zu erpressen, seine Kenntnisse über deren Technologie zu verraten. Oder sie halten ihn gefangen um den Zusammenschluss zu torpedieren. Egal wie, die Shibuya-Archive… sie waren einst ein Testgelände für BioDyne’s ‚Project Prometheus’ – dass Webb also dort gefangen gehalten wird oder dass sie dort Zugang zu einer versteckten Einrichtung suchen, um ihn zu zwingen, die Verschlüsselung zu knacken, ist die logischste Schlussfolgerung.“

Kai’s interner Monolog unterstützte diese Schlussfolgerung. Webb ist der Schlüssel. Er hat dutzende Projekte entwickelt. Wenn er verschwunden ist, muss es einen Grund geben. Und diese Runner… sie sind die opportunistischen Aasgeier, die sich auf solche Ziele stürzen. Pox und auch Augusto sind hier nur die Helfershelfer. Sie sind nicht daran interessiert, die Menschheit zu retten, sondern nur daran, von Webbs Wissen zu profitieren. Mein Auftrag ist es, Webb zu sichern und jede Bedrohung für BioDyne auszuschalten. Er verknüpfte die „Shibuya-Route“ fälschlicherweise mit der möglichen Entführung von Webb, anstatt mit Voss’s Reue und dem wahren Ziel des Protokolls.

„Bestätigt, Renjiro. Diese Variable ändert die operative Strategie. OmniTechs Suchmuster sind nicht optimal. Dies ermöglicht uns einen 63%igen Effizienzvorteil. Eigene Teams können auf die Shibuya-Archive umgeleitet werden. Alle Daten über BioDyne-Anlagen, Baupläne, Sicherheitsroutinen, Zugangscodes werden Ihnen zur Verfügung gestellt.“

„Negativ“, unterbrach Kai sie. „Die Teams sind zu langsam. Auch viel zu auffällig. Das ist mein Ziel. Ich bin alleine schneller, effizienter. Schicken Sie mir nur die Daten. Und halten Sie die Augen auf ungewöhnliche Energiepakete, die von Geräten oder dem Modulator in dieser Zone ausgehen könnten. Ich will eine Echtzeit-Spur, Aris.“

„Update Zielvorgaben BioDyne Teams zu Perimeter-Sicherung“, antwortete Aris. „Finden Sie Webb.“

Kai beendete die Verbindung. Er spürte keine Aufregung, nur die kalte, logische Berechnung eines Jägers, der seine Beute wähnte. Seine Fehlinterpretation war vollständig. Er glaubte, die Wahrheit gefunden zu haben, und die Ironie war, dass er damit genau das tat, was NeuroNet als „Ineffizienz“ empfunden hätte – er zog aus unzureichenden Informationen die falschen Schlüsse.

Spurensucher

Die Nacht hatte sich wie ein schwerer Mantel über New Babel gelegt, doch die künstlichen Lichter der Megastrukturen darüber warfen einen ewigen, unheimlichen Schein in die Tiefe. Kai Renjiro bewegte sich nun mit einer neuen, zielgerichteten Geschwindigkeit. Er hatte die grobe Spur. Er war der Jäger, der seine Beute witterte, nicht durch Instinkt, sondern durch das unbestechliche Flüstern von Daten.

Mit dem Blick auf Pox’s Datapad Nachricht, welche er subtil erhaschen konnte, während Pox in Panik die Nachrichten löschte, wusste Kai nun dass einzigartige Frequenzmuster von dem selbst gebautem Modulator zu verfolgen. Sein eigenes cybernetisches Auge projizierte eine holographische Karte auf sein Sichtfeld, auf der zwei feine, pulsierende Linien den Korridor markierten, den Juno und Samuel wahrscheinlich genommen hatten. Aris fütterte Ihn mit den entsprechenden Daten. Er hatte zwar keinen genauen Wegweiser, kaum mehr als eine grobe Richtung, aber das war genug. Es war eine Geisterspur, ein Rauschen in den verschachtelten Netzen der OldNet-Überreste, aber für Kai war es sein unfehlbarer Leuchtturm.

Die Umgebung wurde zunehmend feindseliger. Einstürzende Gebäude, die von der Zeit und den Elementen zerfressen waren, verwandelten sich in schmale Pfade und unwegsame Barrieren. Kai nutzte seine überlegene Agilität und seine cybernetischen Verbesserungen, um die Hindernisse zu überwinden, wo Juno und Samuel hatten kämpfen müssen. Er sprang über tiefe Abgründe, kletterte mühelos an bröckelnden Fassaden empor, seine taktischen Stiefel fanden auch auf glitschigen, verrotteten Oberflächen Halt. Der Gestank des Verfalls wurde hier unten noch intensiver, vermischt mit dem beißenden Geruch von schwelenden Kabeln und der kalten Luft, die aus den tieferen, ungelüfteten Schächten aufstieg.

„Aris, analysiere Updates“, sagte Kai, seine Stimme war ruhig, seine Atmung gleichmäßig, selbst während er einen schwierigen Abstieg bewältigte. „Unregelmäßige Datenpakete von der Modulator-Signatur. Was bedeuten sie?“

„Wird analysiert, Renjiro“, Ari’s Stimme kam sofort. „Es scheint, als würde der Modulator für kurze, intensive Bursts aktiviert. Hohe Bandbreite, aber sehr kurzlebig. Das deutet auf einen schnellen Daten-Download oder -Upload hin. Möglicherweise greifen sie auf alte Datenbanken zu. Oder sie versuchen, ein Signal zu senden.“ Ari’s Stimme enthielt einen Hauch von Besorgnis. „Die OmniTech-Teams berichten von vermehrten Störungen in ihren lokalen Kommunikationsnetzen, sporadischen Ausfällen in Sektor 12. Keine direkte Verbindung, aber die zeitliche Korrelation ist auffällig.“

Kai grinste leicht. Das war das Werk des Datenläufers. Ohne Zweifel war er nicht nur ein Läufer, er war ein lebender Störsender, ein Dorn im Auge des Systems. „Sie suchen nach einem Zugang. Und sie stören dabei die Konzerne. Das ist typisch.“

Er kam an einem verrotteten Kontrollpunkt vorbei, wo ein alter, stillgelegter Sicherheits-Goliath, eine massive, rostige Kampfmaschine, wie eine steinerne Wache stand. Kai ignorierte ihn. Seine Priorität war die Spur des Modulators, die ihn tiefer und tiefer in die vergessenen Eingeweide des alten Shibuya führte, in das Herz der OldNet-Datenpunkte.

„OmniTech Delta-Team Drei meldet, dass sie im Sektor 12, Sub-Ebene F, auf erhöhte Strahlungswerte stoßen und eine Umleitung anfordern“, meldete Aris. „Das könnte eine Ablenkung sein, oder sie kommen Ihrer Position zu nahe.“

„Unwahrscheinlich“, erwiderte Kai. „Die Strahlung weist auf eine alte, instabile Kernfusionseinheit hin, die dort wohl noch vor sich hin gammelt. Nicht deren Stil. Halten Sie mich über ihre tatsächlichen Bewegungen auf dem Laufenden. Ich brauche die genaue Distanz zum Signal und weiter eine Projektion der Route.“

Die Entfernung zwischen Kai und seinen Zielen schrumpfte stetig. Die pulsierende Linie auf seinem Display wurde dicker, stabiler. Er war nah dran. Er würde die Läufer erwischen, bevor sie Webb zu viel Schaden zufügen konnten, bevor sie Daten in die falschen Hände bekamen. Kai Renjiro war der Jäger, und er würde seine Beute bis ans Ende der Welt verfolgen. Und das Ende der Welt schien genau hier zu sein, in den zerfallenen Tiefen unter Shibuya.