Europa hat ein kompliziertes Verhältnis zur Digitalisierung. Einerseits ist da der Wille, eigene Standards zu setzen, technologische Unabhängigkeit zu wahren und nicht vollständig von US- und chinesischen Tech-Giganten abhängig zu sein. Insbesondere seit offiziell unter Eid bestätigt wurde, dass die Datenhoheit nicht garantiert werden kann. Andererseits tut sich die EU oft schwer, diese Ambitionen in marktfähige Produkte und funktionierende Infrastrukturen zu übersetzen.
Erste letzte Woche in den News haben wir ja gelesen, dass das Digitalministerium kleinlaut zugeben musste, dass Deutschland nach wie vor von US Tech Dienstleistern abhängig ist. Von nichts kommt halt nichts…
Ein Paradebeispiel dafür ist Gaia-X. 2019 mit großen Versprechen gestartet, sollte das Projekt ein föderiertes, europäisches Cloud-Ökosystem schaffen. Die Idee klang stark: ein gemeinsamer Standard, bei dem Daten-Souveränität, Transparenz und Interoperabilität im Mittelpunkt stehen. Doch die Realität hat die Vision schnell eingeholt.
Gaia-X: große Vision, kleine Wirkung
Das Problem von Gaia-X war nicht die Idee – sondern die Umsetzung. Zu viele unterschiedliche Interessen von Politik, Industrie und Forschung führten dazu, dass man sich in Governance-Fragen verhedderte, anstatt konkrete Lösungen zu entwickeln.
Statt schnell erste technische Standards zu etablieren, blieb das Projekt lange in Workshops, Konsortien und Konzeptpapieren stecken. Währenddessen wuchs die Abhängigkeit von AWS, Microsoft Azure und Google Cloud weiter und die Marktführer bauten ihren Vorsprung in Sachen Skalierung, KI-Angebote und Entwickler-Ökosystemen massiv aus.
Kurz gesagt: Europa hat kostbare Zeit verloren. Gaia-X existiert zwar noch, aber die Relevanz ist gering. Im besten Fall war es ein Lernprozess, im schlechtesten Fall eine Mahnung, wie schwerfällig europäische Digitalinitiativen sein können.
8ra: ein zweiter Anlauf – diesmal mit technischer Basis
Mit der 8ra Cloud-Edge-Initiative versucht Europa nun einen Neustart. Und diesmal gibt es eine entscheidende Neuerung: eine konkrete technische Referenzarchitektur. Die sogenannte IPCEI-CIS Reference Architecture (ICRA) ist im Kern ein Bauplan, der genau beschreibt, wie eine föderierte Cloud-Edge-Infrastruktur in Europa aussehen könnte. Die Abkürzung IPCEI übrigens, das sind die wichtigen Vorhaben von europäischen Interesse, ausgeschrieben: Important Projects of Common European Interest.
Anders als bei Gaia-X geht es nicht nur um schöne Worte, sondern um eine klare Struktur:
- Vom physischen Layer der Hardware über Netzwerke, Virtualisierung und Plattform-Services bis hin zu Daten, KI und Anwendungen ist genau beschrieben, wie die einzelnen Ebenen zusammenspielen sollen.
- Zusätzlich werden Querschnittsthemen wie Sicherheit, Nachhaltigkeit und Management direkt berücksichtigt, also nicht als spätere Add-ons, sondern als feste Bestandteile des Systems.
- Besonders spannend: Die Architektur soll Cloud und Edge nahtlos verbinden. Statt also zu entscheiden, ob Daten zentral oder dezentral verarbeitet werden, können Workloads dynamisch verteilt werden – je nachdem, ob es um Rechenleistung, geringe Latenz oder Energieeffizienz geht.
Damit wirkt 8ra weniger wie ein politisches Statement und mehr wie ein technischer Werkzeugkasten, mit dem man tatsächlich arbeiten kann.
Chancen: Warum 8ra mehr Erfolg haben könnte
Das klingt alles erst einmal nach einem echten Fortschritt. Vor allem, weil 8ra auf Praxisnähe setzt. Statt nur Standards zu definieren, die irgendwann einmal umgesetzt werden könnten, laufen bereits Pilotprojekte. Dort zeigt sich, ob die Architektur funktioniert, wo Anpassungen nötig sind und welche Schnittstellen in der Realität Bestand haben.
Auch der föderative Ansatz ist interessant: 8ra will nicht den „einen europäischen Cloud-Anbieter“ schaffen, sondern viele Anbieter über offene Schnittstellen miteinander verknüpfen. Das könnte auch kleinen und mittelständischen Playern die Chance geben, Teil des Ökosystems zu werden – ein entscheidender Unterschied zu Hyperscalern, bei denen kleinere Anbieter oft keine Rolle spielen.
Und nicht zuletzt: Open Source. Ein Großteil der Initiative setzt bewusst auf offene Standards und Community-Ansätze. Das ist nicht nur eine Frage von Transparenz und Vertrauen, sondern auch eine Voraussetzung, um Abhängigkeiten von einzelnen Herstellern zu vermeiden.
Risiken: Déjà -vu-Gefahr
Trotz aller Fortschritte sollten wir uns nichts vormachen: Auch 8ra ist kein Selbstläufer. Viele der Risiken erinnern frappierend an Gaia-X.
Die technische Komplexität einer föderierten Cloud-Edge-Infrastruktur ist enorm. Schon heute kämpfen Unternehmen damit, Multicloud-Umgebungen sauber zu orchestrieren und hier reden wir von einer noch heterogeneren, europaweit verteilten Infrastruktur. Wenn Schnittstellen nicht wirklich standardisiert werden oder die Orchestrierung zu kompliziert bleibt, droht die Vision wieder in der Theorie stecken zu bleiben.
Hinzu kommt der Zeitfaktor. Schon 2019 war Europa im Rückstand, und seitdem ist die Kluft nur größer geworden. Während 8ra an Version 1.0 der Architektur gearbeitet hat, haben AWS, Google und Microsoft längst neue Services rund um KI, IoT oder automatisiertes Ressourcen-Management etabliert und gewinnen täglich mehr Kunden, Entwickler und Daten.
Und schließlich bleibt die politische Dimension. So föderiert 8ra auch gedacht ist: Wenn jedes Land oder jede Industriegruppe wieder eigene Interessen durchdrücken will, droht ein Rückfall in die alte Gaia-X-Dynamik: viele wichtige Flipchart-Meetings, wenig greifbare Ergebnisse.
Fazit: Skepsis mit Hoffnungsschimmer
Europa startet mit 8ra also einen zweiten Anlauf, eine eigene digitale Infrastruktur zu schaffen. Der große Unterschied zu Gaia-X: Diesmal gibt es eine solide technische Basis und reale Pilotprojekte. Das ist ein Fortschritt, den man nicht kleinreden sollte.
Gleichzeitig darf man die Risiken nicht ignorieren. Die internationale Konkurrenz ist schneller, größer und am Markt etabliert. Wenn Europa zu lange zaudert, wird auch 8ra irgendwann nur ein Nischenprojekt sein, das hinter den globalen Trends herläuft.
Und doch: 8ra hat eine Chance – vielleicht die letzte – um Europas digitale Souveränität wenigstens ein Stück weit zurückzugewinnen. Ob das gelingt, hängt weniger von der Architektur ab, sondern davon, ob Politik und Wirtschaft diesmal die Disziplin und Geschwindigkeit aufbringen, die sie bei Gaia-X vermissen ließen.
Es bleibt also beim alten Dilemma: Europa denkt groß – aber ob es auch groß handelt, wird sich erst noch zeigen.