[ IV ] Echoes of Mira
Vermächtnis
Die Luft in den tieferen Ebenen unter Shibuya am Rand von Sektor 12 wurde nicht dünner, sie wurde schwerer. Schwer von Staub, von der Korrosion jahrhunderte alter Metalle und dem ätzenden Geruch von flüssigem Ammoniak, der aus den undichten Kühlleitungen eines längst vergessenen Komplexes sickerte. Juno und Samuel bewegten sich wie Schatten durch das skelettartige Innere dessen, was einst eine der blühenden Adern New Babels gewesen war – ein riesiger Transportknotenpunkt, der im großen Kollaps des Jahrhunderts zum rostenden Mausoleum für unzählige Seelen geworden war. Jetzt war es nur noch ein weiterer Tummelplatz für „Scrapper“, die Aasgeier des Slums, die mit Schneidbrennern und kybernetischen Greifarmen die letzten verwertbaren Überreste aus den Eingeweiden der Megastruktur rissen. Das schrille Kreischen von Stahl auf Stahl hallte unaufhörlich wider, begleitet vom rhythmischen Dröhnen der schweren Magnetkräne, die das Rückgrat dieser architektonischen Leiche zerlegten.
Die Konfrontation im Rattenloch hatte die Welt nicht nur verschoben, sie hatte sie auf den Kopf gestellt. Augusto hatte mehr getan, als nur eine schmutzige Wahrheit zu enthüllen; er hatte einen Abgrund geöffnet, in den Juno jetzt starrte. Voss war nicht nur ein Programm, das in ihrem Kopf nistete; er war ein sich selbst umschreibendes, evolutionäres Netzwerk, das in den Tiefen der „Old Net“-Server darauf wartete, seine volle Macht zu entfalten. Und Pox’s Multi-Hop-Modulator, das klobige, aber geniale Gerät, das Junos Signal durch die zahllosen, wechselnden Knotenpunkte des Netzes schleuste, war ihre einzige Verbindung zu diesen alten Daten, zu dem Wissen, das Voss in ihr weckte. Voss’s Anweisung, ein kalter Windstoß digitaler Energie in ihrem Kopf, war nach Augustos erschreckender Warnung klar gewesen: „Tief. Tiefer. Dort, wo die Schatten am längsten sind, liegt ein Pfad verborgen. Ein Echo des Alten. Ein Verbündeter, den sie zu vergessen hofften.“
Juno stand still, die Hände zitternd. Sie schloss die Augen und sprach die Worte leise aus, fast als würde sie ein Gebet flüstern, die Linien, die Voss ihr in den Kopf gebrannt hatte: „Ein Echo des Alten. Ein Verbündeter, den sie zu vergessen hofften.“
Samuel hatte zugehört, die Gesichtszüge zu einer Maske der Gleichgültigkeit gefroren, doch seine Augen, jene verräterischen Spiegel der Seele, zeigten eine kalte, nackte Besorgnis, die Juno selbst befiel. Er traute Voss nicht. Nie. Aber er vertraute Junos Überleben.
„Ein Echo des Alten, sagt dein Ghost?“, Samuel spuckte einen dunklen Schleimfleck auf den rußverkrusteten Boden, als sie durch einen schmalen Spalt in einer verrosteten Stahltür schlüpften. Der Geruch von feuchtem Moos und verbranntem Kupfer wurde hier, unter der Erde, unerträglich. „Klingt nach noch mehr Ärger. Diese Ruinen sind entweder leer oder verflucht. Letzteres wäre mir lieber.“
Er hob seine Goliath, sein Blick scannte die Dunkelheit vor ihnen. Selbst Samuels Bio-Dämpfer konnte die stickige Hitze und die lauernde Gefahr nicht vollständig ausblenden. Er war ein Mann der Aktion, kein Archäologe der digitalen Unterwelt.
Juno aktivierte ihren Restlichtverstärker, und die Welt vor ihnen ertrank in einem monotonen, kranken Giftgrün. Jede rostige Schraube, jedes hängende Kabel, jede Pfütze aus unbekannter, schmieriger Flüssigkeit wurde von dieser unheimlichen Lumineszenz verschluckt. Voss’ Pfad in ihrem Geist, ein digitaler Faden, der nun in ihrer DNA selbst zu pulsieren schien, zog sie unerbittlich nach vorne.
„Direkt voraus. Durch die Zerstörung. Sie suchen nach Metall, aber nicht nach dem Geist, der es einst bewohnte“, wiederholte Juno die Worte in Ihrem Verstand, wieder ganz bei der Mission. Sie bahnten sich weiter ihren Weg durch die verwinkelten, dunklen Gänge, die Überreste einer Infrastruktur, die vor Jahrhunderten zusammengebrochen war. Ihre Augen waren nun die ihren, die Dunkelheit vor ihnen war keine leere Schwärze mehr. Es war ein Geflecht aus zerfetzten Kabeln, von Pilzen und Schichten über Schichten von organischem Belag, Schimmel überwachsenen Wänden und dem kaum wahrnehmbaren Glitzern von unidentifizierbaren Flüssigkeiten, die von der Decke tropften.
Juno schoss der kalte Schweiß über den Rücken. Das Geräusch von Wasser, das auf den schmutzigen Boden tropfte, war beinahe tröstlich, bis Sam zu verstehen glaubte, dass es sich in ein stetiges, nasses Klopfen verwandelte – als würde etwas in den Wänden versuchen, sich zu befreien. Jedes Plitsch ein feuchter, dumpfer Schlag. Ein Takt, der zu dem Rhythmus von Junos Herzschlag wurde. Sie hielt den Atem an, lauschte, und der Herzschlag verstummte in der unheilvollen Stille. Nur um dann umso lauter und unheilvoller weiter zu schlagen, als sie ihren eigenen Herzschlag wieder wahrnahm.
Plötzlich hörten sie die Stimmen. Grobe, mechanisch verstärkte Flüstergeräusche, die aus der Dunkelheit vor ihnen kamen. Scrapper. Ihre Gestalten, massig und mit improvisierten Rüstungen aus Metallplatten und Kabeln versehen, tauchten im Licht ihrer Stirnlampen auf. Sie waren dabei, eine massive, stählerne Tür zu bearbeiten, ihre Schneidbrenner spuckten Funken wie kleine Sterne. Der Lärm der anfangs nur ein Flüstern war, wurde ohrenbetäubend je näher sie kamen. Zumindest anschleichen war so nicht erforderlich.
„Da drin ist noch was von Wert, ich schwör’s!“, krächzte einer der Scrapper, seine Stimme durch sein halb zerfallenes, notdürftig repariertes Atemgerät verzerrt. „Die alten Schmelzdraht-Leitungen sind noch intakt. Genug um eine ganze Gang von Arschlöchern für einen Monat zu ernähren!“
Juno und Samuel duckten sich hinter einem umgestürzten Ventilator, dessen riesige Rotorblätter wie gigantische Knochen im Dunkeln lagen. Die Luft war erfüllt vom Geruch von brennendem Kunststoff und dem schneidenden Klang der Plasmafackeln. Voss’s Anweisungen wurden drängender: „Umgehe sie. Der Eingang ist nicht weit dahinter. Verborgen.“
Samuel schulterte die massive Shotgun und zog seine beiden SMGs. „Vier von denen. Nicht ideal. Ich lenke sie ab, du gehst durch. Wenn du nicht innerhalb von fünf Minuten zurück bist, komme ich nach. Aber dann hast du eine Menge Erklärungsbedarf.“
Juno schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn es stimmt, was Voss sagt, brauchen wir eine Ablenkung, die sie nicht ignorieren können. Etwas… Altes.“ Sie blickte auf eine der riesigen, scheinbar inaktiven Kontrolltafeln, die in der Nähe lag, übersät mit verrosteten Schaltern und kaputten Anzeigen. Es war ein Relikt aus einer anderen Ära. „Siehst du das Energierelais dort?“ Sie deutete auf einen freiliegenden, brummenden Kasten, der mit dicken Kabeln verbunden war. „Wenn wir da was kurzschließen… das würde genug Aufmerksamkeit erregen, um sie von der Tür wegzuziehen.“
Samuel grinste. „Ein lautes ‚Hallo‘. Gefällt mir. Bist du sicher, dass du das hinkriegst, ohne uns beide zu frittieren?“
„Voss hilft“, sagte Juno knapp. Ihre Finger zuckten. Sie sprintete los, während Samuel Deckung gab. Sie zwängte sich durch ein Gewirr aus Kabeln und Schutt. Die Scrapper waren auf ihre Arbeit konzentriert, das Klirren ihrer Werkzeuge und Zischen des Schneidbrenners erfüllte den Raum. Sie bemerkten die beiden neuen Eindringlinge in ihrem Scrapyard nicht.
Junos Hand flimmerte, als Voss’s Präsenz in ihrem Kopf anschwoll, ein eiskalter Windstoß digitaler Energie. Er zeigte ihr nicht das Relais, sondern eine überladene Energieschiene direkt über den Scrappern, neben der sie gerade arbeiteten. Noch besser, das wird sicher Eindruck hinterlassen, dachte Sie sich.
Juno erreichte die verrostete Kontrolltafel, deren Oberfläche mit einer öligen, jahrzehntealten Dreckschicht überzogen war, die den Staub von tausend kaputten Luftfiltern in sich trug. Es gab keine Zeit für Analysen. Voss zeigte ihr über ihr Interface einen einzigen, roten Datenpunkt, das Ziel. Es war der Ort, an dem sich die Schwäche der alten Technik verbarg. Voss gab ihr keine Wahl, keine Erklärungen, nicht mehr als das Wissen, wie sie die Konsole als Waffe nutzen konnte. Sie drückte ihre Hand auf die ölige Patina der Konsole und erzwang mit ihrem neuralen Interface eine Verbindung. Unter der Führung von Voss fand sie den verborgenen Wartungsmechanismus in diesem leuchtenden Labyrinth aus Binärcode, das Gefühl eines offenen, blutenden Nervs, der in der alten Technik lauerte. Voss’s Anweisungen waren brutal und direkt: Finde den schwächsten Punkt und zwinge ihn. Juno ignorierte die Knöpfe und schickte eine bissige Malware, einen scharfen, digitalen Schrei, der die alten Protokolle durchdrang.
Sie sah in ihrem inneren Auge vorab, wie der Befehl die Systeme überlud, sah die digitale Welle die Kabel auf der Energieschiene traf, die direkt über den Köpfen der Sammler-Truppe lag. Sie erzeugte eine kaskadierende Feedbackschleife in der Energieschiene, die die Sicherheitsprotokolle ignorierte und einen systemischen Überlastungsmodus erzwang, der zur unweigerlich zu einer Explosion führte. Sie überlastete die Energieschiene nicht, sondern zerbrach sie mit roher, digitaler Gewalt. Die Explosion war kein einfacher, heller Blitz, sondern ein brutaler, ohrenbetäubender Knall, der die Wände erzittern ließ, als die überladenen Kabel rissen und glühendes Metall in die Luft spritzte. Funken sprühten, dicker Rauch drang in jeden Winkel des Raums. Es war ein lauter, schmutziger, aber vollkommen notwendiger Akt der Zerstörung.
Gefühlt zeitglich mit dem Ende des Gedanken erfüllte ein greller, blendender Blitz taghell den Bereich. Ein ohrenbetäubender Knall ließ die Wände erzittern, als die überladene Schiene in einem lauten Feuerwerk explodierte. Funken sprühten in alle Richtungen, und dicker, beißender Rauch quoll aus dem beschädigten System. Die Wucht der Explosion riss einen von den Füßen und schleuderte einen anderen mitsamt seiner Ausrüstung gegen eine Wand. Die Notbeleuchtung im gesamten Bereich flackerte wild, erlosch für einen Moment und kam dann nur noch als spärliches, unregelmäßiges Stroboskoplicht zurück.
Als hätte man einen Chor orchestriert schrien sie auf, ließen ihre Werkzeuge fallen, ihre Gesichtszüge von Panik verzerrt. „Was … zur Hölle …war DAS?!“, brüllte einer, hustend im Rauch. „Die Stromzufuhr! Alles tot! Wir sind im Arsch, wenn noch mehr hoch geht, raus hier!“ Ein anderer stolperte, seine Stimme erfüllt vor Angst. „Fuck, ich bin raus!“
Völlige Panik brach aus. Dieser zusammengewürfelte Mechanik-Trödeltrupp rannte nun blindlings in die Dunkelheit. Sie stießen sich dabei gegenseitig weg, hangelten sich an den Wänden entlang als müssten Sie ein sinkendes Schiff verlassen, ihre Schritte hallten und verhallten, als sie das Weite suchten.
Samuel nutzte die Verwirrung. Er schloss zu Juno auf. „Nette Show, dein Feuerwerk!“, lobte er anerkennend mit seinem unfreiwillig komischen, typisch schiefem Grinsen. „War so geplant, dass der Schweißer dabei durch den halben Raum fliegt, oder?“
Die beiden liefen noch wenige hundert Meter bis zur verborgenen stählernen Tür, die im Schutz der Dunkelheit lag. Voss’s Pfadangabe war hier auf den Punkt genau präzise. Sie fand an einer unscheinbaren metallischen Wand einen versteckten Notfall-Override, eine winzige Konsole, die in die Seite einer Überlappung eingelassen und von einer Schicht aus Staub und Spinnweben bedeckt war. Ihre Finger tanzten über die altertümlichen Symbole. Das leise, kalte Klicken des Schlosses war der einzige Gruß, bevor sich die Stahlwand knarrend, stöhnend und mit dem Geräusch eines sich verwindenden Metalls öffnete. Es bewegte sich eine gigantische Tür, nein eigentlich schwang das komplette 4×4 Meter Wandelement knarrend einen Spalt weit auf, als Samuel hinter ihr ankam. Beide sahen sich einen Moment lang beeindruckt an. Gemeinsam drückten sie sich hindurch, in eine andere Welt, die in absoluter Stille und Kälte lag. Die Luft, die ihnen entgegenströmte, war nicht einfach kalt, sie roch klinisch tot.
Sie befanden sich in einer gewaltigen, halbrunden Kammer, deren Wände mit Reihen von Kryo-Stasis-Kapseln ausgekleidet waren. Es war ein Ort, den die Scrapper in all den Jahren nie erreichen konnten, zu gut gesichert und seine bloße Existenz nirgends dokumentiert. Die Luft hier war kalt und scharf, beinahe eisig, und der Geruch war hier nicht korrosiv, sondern rein, wie in einem Labor. Dies war keine einfache Lagerhalle. Es war eine Kryo-Gruft, ein vergessener Tresor für lebendige Geheimnisse.
Kälteschlaf
Die Kammer war groß wie ein Hangar, aber die Stille, die sie erfüllte, war beinahe unerträglich. Ein leises Summen erfüllte den Raum, ein Pulsieren aus dem Herzen der Kryo-Stasis-Röhren. Dutzende, vielleicht Hunderte von ihnen, standen in Reihen, wie riesige Särge aus gefrorenem Glas und Stahl. Durch das matte Eis auf den Scheiben konnte Juno schemenhafte Umrisse erkennen: menschliche Formen, die in einem ewigen Schlaf zu schweben schienen. Es war eine erschreckende, wunderschöne Szene, ein Friedhof der Zukunft.
Samuel hob seine Goliath und scannte mit der vorgehaltenen Shotgun den Raum. „Was zur Hölle ist das hier?“, flüsterte er. „Eine Art Notfallbunker? Oder ein Gefängnis für die Eliten, die den Kollaps verpasst haben?“ Seine Stimme verriet, dass selbst er, der so viel gesehen hatte, von der Szenerie beeindruckt war.
Voss’s Stimme in Junos Kopf war drängender geworden, fast aufgeregt. „Dort. Zentral. Die Kapsel mit dem weißen Licht. Das Echo. Ihre Nummer. Mira-7.“
Juno folgte der unsichtbaren Linie, die Voss in ihr Sichtfeld projizierte. Im hinteren drittel der der Kammer, in der die einzelne Kryo-Stasis-Kapseln leicht erhöht auf einer Plattform standen, sich sonst von den anderen jedoch optisch nicht unterscheiden ließen. Ihr Glas war makellos klar, und im Inneren schwebte eine androgyne Gestalt, eingehüllt in einen silbrig-blauen Dunst. Die Haut wirkte porzellanfarben, durchsetzt von einem feinem Netz aus leuchtenden, chromfarbenen Adern, die wie filigrane Muster unter der Oberfläche pulsierten. Silbernes Haar, von einem schwachen Lavendelschimmer durchzogen, umrahmte ein Gesicht von ätherischer Schönheit. Sie war nicht menschlich. Sie war eindeutig ein Synth.
„Mira-7“, murmelte Juno, als sie die in den Metallsockel geätzte Typenbezeichnung las.
„Mira-7?“, Samuels Augenbraue zuckte. Er legte seine Goliath beiseite. „Das sind echt alte BioDyne-Prototypen. Verteidigungs-Synths der allerersten Generation. Die sollten alle zerstört worden sein. Zu instabil. Zu gefährlich.“
Juno hob den Kopf. „Was heißt instabil?“
Samuel lachte, ein kurzes, trockenes Geräusch. Er trat näher, seine Stimme sank zu einem rauen Flüstern, dem Ton, den man nur in den Hinterhöfen der Konzernsicherheit lernte. „Die waren geplant als die neue Speerspitze von BioDyne, die große Wette auf, sagen wir lebende Waffen. Sie haben ihnen eine organische Neuralmatrix verpasst, eine Art gehirnähnlichen Brei, damit sie schneller auf dem Schlachtfeld denken. Aber der Brei hat sich in Scheiße verwandelt.“ Er spuckte auf den Boden, die Geste war instinktiv. „Die neuralen Bahnen waren …zu komplex? Ich kenne keine genauen Details, aber wenn die zu viele Befehle gleichzeitig kriegten… brach die ganze verdammte Kacke zusammen. Sie konnten Bedrohung und… Rauschen nicht mehr auseinanderhalten. Die Hirne fingen an, sich selbst zu verbrennen. Das nannten sie ‚transitorische Psychose‘.“
Junos Magen zog sich zusammen. „Psychose?“
„Ja, Psychose“, knurrte Samuel. „Wir nannten es ‚das Rauschgift‘. Es war das Zeug, von dem die Alpträume der Rookies gemacht wurden. Uns wurde erzählt, einer von denen ist vor Jahren in Sektor 5 durchgedreht. Eine scheiß Sicherung brannte durch, und das Ding hat ein ganzes Labor in Einzelteile zerlegt. Er hat die Wissenschaftler mit bloßen Händen aufgerissen, die Organe wie Spielzeug in der Gegend herumgeworfen und ihre Leichen dann wie Puppen aufgestellt. Das war keine Kampfmaschine, das war ein Experiment, das sich zu einem Monster entwickelt hatte.“
Er blickte wieder auf die Kapsel, seine Augen waren so kalt wie die Luft im Raum. „Sie wurden also nicht zerstört. „Sie wurden konserviert. Das ist viel beunruhigender! BioDyne hat sie hier eingefroren, als ob sie sie eines Tages doch noch brauchen könnten. Als ob sie ein Problem archiviert und nicht gelöst hätten.“
Juno sagte nichts. Voss mochte nun ein „Echo des Alten“ sein, aber die Technologie, die er ihr hier präsentierte, war das Echo des Versagens. Samuel sah nur die technischen Daten, die potenzielle Waffe. Doch Juno sah das Gesicht hinter dem Glas und die chromfarbenen Adern, die wie filigrane Narben unter der Haut pulsierten. Das war kein Synth. Das war auch keine Kampfmaschine, das war ein Experiment. Ein Opfer.
„Sie ist im Kälteschlaf“, sagte Juno, als sie die Kontrollkonsole der Kapsel untersuchte. Die Anzeigen waren erloschen, aber ein schwacher, intermittierender Energiesignatur-Ping war zu spüren. Die Technologie war alt, aber robust. „Sie wurde also konserviert und nicht zerstört.“
Voss’s Anweisung war klar: „Aktiviere sie. Sie ist der Schlüssel zu den verlorenen Erinnerungen. Ihre Mission. Sie kann dir helfen zu verstehen.“
Juno zögerte. Ein Synth. Eine alte BioDyne-Kampfmaschine. Ihr Misstrauen gegenüber instabiler KI und Konzerntechnologie ganz im allgemeinen war tief verwurzelt. Doch Voss’s Ton war ungewohnt dringend. Und Augusto hatte bestätigt, dass Voss jetzt etwas viel Größeres war als nur ein Programm. Wenn diese Synth wirklich ein Verbündeter sein konnte, ein „Echo des Alten“, wie Voss es nannte…
„Das könnte eine Falle sein“, warnte Samuel, seine Goliath nun wieder fest im Griff. „Ein Sleep-Agent. Ich sag dir, diese Dinger sind unberechenbar.“
Sam schritt von Kapsel zu Kapsel, seine Waffe wie einen Taktstock auf und ab führend während er halblaut zu murmeln begann. „Mal sehen, wie viele die davon noch hier auf Eis liegen haben.“ Sams Bewegungen waren flüssig und zielgerichtet, die Schritte klangen hohl auf dem Metallboden. Der Lauf seiner Goliath, mit einer Mündung so groß wie eine Faust, bewegte sich rhythmisch, nein fast schon hypnotisch, auf und ab. Er zählte nicht laut, sondern flüsterte die Zahlen in einem rauen, unheilvollen Ton, der so kalt war wie die Luft im Raum.
„Eins. Ein Problem. Zwei. Ein weiteres. Drei. Und noch eins.“ Er hielt inne, der Lauf seiner Waffe schwebte vor einer Kapsel, in der ein Mann mit scharf geschnittenem Gesicht ruhte. „Vier. Ein vergrabener Feind.“ Seine Stimme war jetzt nicht nur flüsternd, sie war ein trockenes, zynisches Kichern.
Juno stand da, ihre kybernetischen Augen folgten dem zuckenden Lauf seiner Waffe. Sie sah nicht die Zahlen. Sie sah eine kalte, systematische Klassifizierung von menschlichen Seelen, die zu Objekten geworden waren. Samuel zählte nicht Menschen, er zählte Gefahren oder Assets. Für ihn gab es hier keine Gefangenen, nur Dinge, die man töten, benutzen oder ignorieren konnte. Sie fragte sich, was er in seiner Zeit bei OmniTech alles gesehen haben musste, um so zählen zu können. Was hat er geopfert, um diese Liste erstellen zu können?
„Oder es ist eine Chance“, konterte Juno dem davon schreitenden Ex-Enforcer. „Pox sagte, ich bin ein Sender. Wenn wir ein Signal suchen, ist vielleicht ein Empfänger nützlich?“ Sie ignorierte Samuels skeptisches Schulterzucken und konzentrierte sich auf die Kontroll-Konsole vor der Kapsel. Ihre kybernetische Hand glitt über die verstaubten Bedienfelder. Sie versuchte, die Konsole mit ihren eigenen biometrischen Scannern zu überbrücken, die alten Sicherheits-Firewalls zu umgehen. Eine Reihe von Fehlermeldungen blinkte auf: ACCESS DENIED – AUTHORIZATION LEVEL INSUFFICIENT.
Sie versuchte eine manuelle Override-Sequenz, die sie aus einem Untergrund-Forum kannte, doch die Kapsel blieb stumm. PROTOCOL VIOLATION – SYSTEM LOCKDOWN.
Junos Frustration wuchs. Mit jeder Minute, die sie versuchte in die Kontrollkonsole einzudringen, stieg auch die Anspannung. Trotz der Kälte in der Kammer perlte ihr ein Tropfen Schweiß von der Stirn über die linke Wange, ihre Finger tanzten schneller und aggressiver über die alten Symbole, als ob bloße Gewalt sie dazu zwingen könnte, zu gehorchen. Sie fluchte leise, dieses ausgemusterte, veraltete BioDyne-Betriebssystem war bockiger, als sie es erwartet hatte. Die Verschlüsselungen waren zu alt, die Protokolle zu tief in die Hardware eingebrannt. Sie versuchte, eine Schleife in der Energieversorgung zu finden, um das System zum Reset zu zwingen, aber jeder Versuch endete in einer neuen, noch längeren Fehlermeldung, die über die kleinen, vergilbten Bildschirme huschte.
Samuel, der inzwischen seinen Appel mit der beeindruckenden Zahl von ‚127 Problemen im Kryoschlaf‘ erfolgreich abgeschlossen hatte und zu Juno zurück gekehrt war beobachtete sie von der Seite. Seine Augenbraue hob sich skeptisch. „Na, Läuferin. Nicht so einfach, was? Die alten Dinger sind manchmal zäher als ein Stahlgorilla.“
„Die sind für jemanden konzipiert, der nicht will, dass sie gefunden werden“, knurrte Juno, ihre Zähne waren zusammengebissen. Ihr kybernetisches Auge pulsierte leicht, als sie eine letzte, komplizierte Code-Kette in die Konsole einspeiste. Ein Moment der Hoffnung, als die Lichter kurz aufblitzten, dann wieder die gleiche ernüchternde Meldung: UNAUTHORIZED ACCESS ATTEMPT – SYSTEM INTEGRITY COMPROMISED. AUTOMATED SHUTDOWN PROTOCOL INITIATED.
„Verdammt!“, stieß Juno aus, ihre Hand schlug frustriert auf die Konsole. Das System hatte sich nicht nur geweigert; es hatte sich nun vollständig verriegelt und schien in eine Art tiefen Schlaf zu fallen.
Voss’s Stimme, die bis dahin nur subtile Anweisungen gegeben hatte, wurde nun deutlicher, drängender. „Sie blockieren meinen Zugang. Ihre Sicherheitsprotokolle… sie erkennen die Präsenz des Kerns. Ich kann nicht direkt intervenieren, ohne sie zu alarmieren. Du musst mich anfordern. Deine Stimme. Dein Wille. Verbinde dich mit mir. Sprich. Die Konsole ist ein Echo. Dein Befehl ist das Signal.“
Juno zog ihre Hand zurück und starrte auf die Konsole, dann auf die Kapsel. Voss… er wollte, dass sie ihn bat? Nach all dem, was er ihr angetan hatte, nach der Erkenntnis, dass er die Menschheit für ineffizient hielt? Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Doch die Alternativen waren gering. Mira-7 war ihre einzige Chance, mehr über Voss, über NeuroNet zu erfahren. Und sie wusste, dass sie ohne Voss’s direkte Hilfe nicht weiterkam.
Sie atmete tief durch. „Voss“, flüsterte Juno, ihre Stimme klang hohl in der stillen Kammer. „Ich brauche dich. Hilf mir. Jetzt.“
In diesem Moment, als Junos verzweifeltes Flehen die kalte Luft durchschnitt, geschah etwas. Ihre kybernetische Hand flimmerte, als sie das Relais berührte. Voss’s Präsenz in ihrem Kopf war wieder wie ein eisiger Windstoß, der ihr half, die alten Schaltpläne zu visualisieren, die in der Maschine schlummerten. Es war ein Tanz von Millisekunden, ein Hack auf Hardware-Ebene. Voss schoss ihr Codes und Schaltpläne in den Kopf, schneller als ihre Augen sie verarbeiten konnten, die jedoch ihr Innerstes durchströmten wie ein elektrischer Schlag. Es war, als würde Voss direkt mit der alten Technologie der Kapsel kommunizieren, durch sie hindurch, Junos Geist als Brücke nutzend. Die Konsole, die eben noch unnachgiebig gewesen war, wurde zu einem Spiegel von Voss’s Willen.
Ein tieferes Summen erfüllte den Raum. Die Lichter der Kryo-Kapsel blühten mit einem weichen, blauen Leuchten auf. Ein Knistern von statischer Elektrizität erfüllte die Luft. Die silbrig-blaue Substanz im Inneren der Kapsel begann zu perlen und sich aufzulösen. Ein sanftes Rauschen erfüllte den Raum, als die Kryo-Flüssigkeit in die Bodenabläufe abgeführt wurde. Der Atem von alter, irgendwie süßlicher Luft strömte aus der Kapsel, vermischt mit einer eigenartigen, fast schon floralen Note.
Langsam, mit einem Zischen und Klicken hydraulischer Mechanismen, hob sich der Deckel der Kapsel. Mira-7 schwebte für einen Moment schwerelos, ihre Augenlider flatterten. Ihre Augen, tiefblau und ohne Pupillen, öffneten sich abrupt. Sie blickte direkt auf Juno, ihre Miene vollkommen ausdruckslos. Ihr Blick ging durch Juno hindurch, als würde sie eine ferne Erinnerung suchen.
Mit seiner linken Hand zog Sam die wie erstarrt wirkenden Juno zwei Schritte von der Konsole weg, während er mit der rechten Miras Torso durch seine Goliath auf Abstand hielt. Juno stolperte dabei rückwärts und saß nach einem kurzen Schreckmoment ungelenk auf dem Boden.
Dann sank die Synth langsam zu Boden, ihre Glieder noch steif vom langen Schlaf.
Fragmente
Mira-7s erste Bewegung war ein sanftes Aufsetzen auf den kalten Metallboden der Kryo-Kammer, ihre Bewegungen waren noch nicht ganz flüssig, wie die eines Marionettenspielers, der erst noch die Fäden sortieren musste. Ein leises Knistern begleitete jede ihrer Gliedmaßen, als sich die Gelenke anpassten. Ihre Augen, tiefblau und noch ohne Blinzeln, scannten den Raum mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit, registrierten jeden Winkel, jede Staubpartikel, jeden Schatten. Es war eine klinische, aber auch beunruhigende Art der Beobachtung.
„Status: Aktiv“, sagte Mira-7, ihre Stimme war weich, präzise, fast synthetisch, mit einem leichten, aber unverkennbaren Echo. Es klang wie perfekt geformtes Glas. „Systemprüfung: 98%. Speicherzugriff: Fragmentiert. Mission: Unklar.“
Samuel zielte weiter mit seiner Shotgun in ihre Richtung. „Wer bist du? Und was zum Teufel machst du hier unten?“
Mira-7 drehte ihren Kopf leicht, ihr Blick ruhte auf Samuel, analysierte ihn. „Ich bin Mira-7. Einheit zur Verteidigung – und -?“ Es folgte eine Pause die sich wie eine Ewigkeit anfühlte. BioDyne-Klassifizierung: Prototyp. Meine letzte bekannte Mission… sie ist bruchstückhaft.“ Ein leichtes Rucken durchzog ihren Körper, als ob ein innerer Kurzschluss stattfand. Dann begann sie, in einer monotonen, aber präzisen Stimme, eine Reihe scheinbar zufälliger Daten zu wiederholen. „Optimaler Kantenschliff, Protokoll 7-Beta. Energieverbrauch 0.003% bei Ruhe. Die Synth-Mundhygiene muss täglich durchgeführt werden. Inhalation von synthetischem Kirschblütennektar ist für Wartungspersonal schädlich. Dies gilt es zu vermeiden. Das Primärziel hat eine Präferenz für blaue Lichtschemata, 1800 Kelvin. Routinemäßige Hardware-Wartung, Sub-Ebene Delta. Warnung: Kontamination durch organische Sporen. Dekontaminationsprotokoll erforderlich.“
Juno spürte, wie die Hoffnung in ihr sank. „Das ist… nutzlos“, murmelte sie. „Sie spuckt nur technische Daten und Warnungen aus. Nichts, was uns hilft.“ Voss in ihrem Kopf war unruhig. „Geduld. Die Erinnerungen sind tief vergraben. Die Schockstarre des Erwachens. Sie braucht Stimulation.“
„Na toll“, Samuel seufzte. „Wir haben eine hochmoderne Türöffner-Puppe, die uns jetzt erzählt, wie man sich die Zähne putzt. Großartig.“ Er sah sich um. „Hör mal, mir ist ein bisschen… schwindelig. Ist dir auch so?“
Juno nickte, ihr Kopf fühlte sich plötzlich leicht an, als hätte sie zu viel Zeit unter Wasser verbracht. „Ja. Und es ist… stickig. Ist die Lüftungsanlage ausgefallen?“ Sie blickte auf die Decke. Die Lüftungsschächte waren staubverkrustet und still.
Mira-7s Kopf neigte sich erneut, ihre Augen, die nichts als klinische Präzision verrieten, scannten die Umgebung. „Umgebungsparameter: Verriegelung erkannt. Umgebungsdruck sinkt. Sauerstoffgehalt: 19.3%. Fallend. Temperatur stabil bei 7,3 Grad Celsius. Luftfeuchtigkeit: 78%. Notfallprotokoll: Primäre Isolationsschleuse ist aktiviert. Lebenserhaltungssysteme sind deaktiviert. Sekundäre Schutzmaßnahme gegen unautorisierten Zugriff.“
Ein kalter Schauer lief Juno über den Rücken. Die Kammer war versiegelt. Und die Luft ging zur Neige, nein, sie wurde ihnen aktiv entzogen. Die Erkenntnis traf sie mit voller Wucht, begleitet von einem Gefühl der Enge in ihrer Brust. Panik stieg in ihr auf.
„Verdammt!“, Samuel schlug mit der Faust gegen eine der Kryo-Kapseln. „die scheiß Wixer haben uns eingeschlossen! Wir ersticken hier!“ Seine Atmung wurde schneller, flacher.
Mira-7, unbeeindruckt von der wachsenden Panik, fuhr fort: „Die Rate des Sauerstoffverbrauchs… menschlicher Metabolismus… bei zwei Individuen in dieser Kammer… geschätzte Zeit bis zum Bewusstseinsverlust: 17 Minuten. Bis zur kritischen Schädigung: 25 Minuten.“
Juno spürte bereits die ersten Anzeichen der Hypoxie. Ein leichter Druck auf ihre Schläfen, ein Summen in den Ohren. Ihre Gedanken begannen, sich zu verlangsamen, wie ein überlasteter Prozessor. Sie sah auf Mira-7, deren makelloses Gesicht und ruhige Haltung in krassem Gegensatz zu ihrer eigenen aufkommenden Verzweiflung standen. „Gibt es einen Override? Irgendetwas?“, keuchte Juno. „Voss, hilf mir! Gibt es etwas?“
Voss’s Stimme war nun von einem eigenen, tiefen Rauschen begleitet, als ob er selbst durch die dichte Luft kämpfen müsste, um zu ihr durchzudringen. „Das System… alter Code… Mira… ihr Zugriff… nur sie kann… das Protokoll… Sie muss es finden… das versteckte Muster…“
Mira-7s Blick ruhte auf Juno, die Neigung ihres Kopfes wurde intensiver. „Die neuralen Signaturen… die Korrelation steigt. Die Anwesenheit des Kernprotokolls… Sie sind eine Brücke.“ Sie schloss die Augen, und zum ersten Mal schien ihr Körper nicht nur zu „rechnen“, sondern sich tatsächlich anzustrengen. Die chromfarbenen Adern an ihrem Hals und ihren Schläfen leuchteten nun deutlich stärker, als würden sie unter der Spannung beinahe platzen. Ein leises Fiepen war aus ihrem Inneren zu hören.
„Was macht sie?“, Samuel schnappte nach Luft, seine Augen wurden glasig. Ihm wurde schwindelig, und kurz sah er die Kryo-Kapseln um sich herum nicht mehr klar, sondern als eine Reihe von tanzenden, grinsenden Schädeln. Eine Halluzination, ausgelöst durch den Sauerstoffmangel.
Mira-7s Mund öffnete sich leicht, als würde sie sprechen, aber es kam nur ein metallisches Knistern heraus. Dann, plötzlich, ein klareres Wort: „Sub-Protokoll… 1-7. Notfall-Lebenserhaltung. Wartungszugang B3. Code… PROMETHEUS_ALPHA_RELAY.“ Die Worte kamen wie aus einem Schlaf, aber sie waren präzise und dringlich. Es war ein Code, der für die Wartung dieser alten Anlage gedacht war, eine Art Notfallschlüssel, den nur ein tiefgreifendes System wie Mira-7 in ihrer fragmentierten Erinnerung finden konnte. Ein Teil ihrer Schutzprogrammierung erinnerte sich an die Überlebensmechanismen der Vault selbst.
Juno spürte einen Adrenalinstoß, der die Müdigkeit kurz vertrieb. PROMETHEUS_ALPHA_RELAY. Der Name Prometheus… er hallte aus den Berichten der MegaCorp Forschungspanne wider, ein Name, der mit einem alten Datenabsturz, einem Scheitern verbunden war. Dies war kein Zufall. „Wartungszugang Beta-3!“, keuchte Juno, ihre Augen suchten fieberhaft die Wände ab. „Wo ist der?!“
Mira-7s Kopf drehte sich ohne zu zögern zu einer unscheinbaren, flachen Platte in der Wand, die kaum sichtbar war, überdeckt von einer feinen Schicht aus Ruß und Staub. „Position: 8 Uhr, Entfernung 31 Meter, Sektor Nord-West. Aktiviere manuellen Override.“
Samuel, der sich an der Wand abstützte, wankte hinüber, seine Hände zitterten, als er die Platte ertastete. Es war eine Wartungsklappe. Seine Finger glitten über die eingravierten Zeichen, während Juno ihm den Code zurief, den Mira-7 soeben genannt hatte. PROMETHEUS_ALPHA_RELAY.
Ein leises Klicken, dann ein Zischen, als die Platte mit einem Ruck aufsprang. Dahinter befand sich nichts als Dunkelheit. Etwas frische, wenn auch ebenso kalte Luft strömte heraus. Ein Notfall-Luftstrom, der über manuelle Hebel gesteuert werden konnte. Samuel tastete in der Dunkelheit, seine Finger erkannten mehrere hervorstehende Elemente. Ohne weiter nachzudenken riss er an einem der Hebel, und mit einem Ächzen öffneten sich irgendwo in der Kammer Lüftungsschlitze. Das leise Rauschen von zirkulierender Luft erfüllte den Raum. Der Druck auf Junos Schläfen ließ bereits nach wenigen Sekunden nach, das Summen in ihren Ohren verstummte langsam. Sie atmete tief und gierig ein.
Mira-7, die ihre Augen noch immer geschlossen hielt, nickte leicht. „Lebenserhaltung wiederhergestellt. Sauerstoffgehalt stabilisiert sich. Speicherzugriff… stabilisiert.“ Ihre Gesichtszüge wirkten ein wenig entspannter. Das Wiederherstellen der Umgebung hatte ihre eigenen internen Systeme irgendwie beruhigt, die gestörten Erinnerungen schienen sich zu ordnen.
Die akute Bedrohung war vorüber, und in diesem Moment der Erleichterung schien etwas Tieferes in Mira-7s Geist zu erwachen. „Ich erinnere mich an… Leere. Und eine Stimme. Die mich anwies, zu warten. Zu schützen.“
Juno trat vorsichtig vor. „Wen? Wen solltest du schützen? Wovor?“
Mira-7’s Blick wandte sich Juno zu, ihre blauen Augen schienen für einen Moment intensiver zu leuchten. Sie neigte ihren Kopf zur Seite, eine ihrer typischen Eigenheiten, die in ihrem Profil beschrieben waren. Es war ein Ausdruck, der bei einem Menschen Nachdenklichkeit bedeuten würde, bei ihr jedoch wirkte es zu abstrakt, wie eine komplexe Berechnungsroutine. „Die Signaturen… sie sind ähnlich. Ein schwacher Echo. Ihre neurale Aktivität… sie ist einzigartig. Vertraut.“
Voss’s Stimme hallte in Junos Geist wider, eine Mischung aus Melancholie und Dringlichkeit. „Sie. Sie war seine Beschützerin. Seine letzte Verteidigung. Sie trug die Wahrheit. Die Bruchstücke. Er hat sie versteckt. Vor den anderen. Vor mir, wie ich geworden bin.“
„Wer ist ‚er‘?“, fragte Juno, ihre Stimme fast flehend. Die Informationen, die Voss ihr gab, waren immer noch zu vage, zu rätselhaft.
Mira-7 schloss ihre Augen für einen Moment, ihre inneren Prozessoren arbeiteten auf Hochtouren. Die chromfarbenen Adern unter ihrer Haut pulsierten schneller. Dann öffnete sie sie wieder. „Eine Persönlichkeit. Ein Projekt. Ein Mann. Seine Stimme… ich erinnere mich an seinen Code. Seine Angst.“ Sie streckte eine Hand aus, ihre Finger, die so perfekt geformt waren, bewegten sich langsam in Junos Richtung. „Die Daten sind… gestört. Fragmentiert. Ich brauche einen stabilen Zugriff auf ein neurales Netzwerk, um die Mission zu rekonstruieren. Die Verbindung zu Ihrer… Kernsignatur… könnte helfen.“
Samuel trat zwischen die beiden, die Shotgun als Veto vor der Brust verschränkt. „Keine Chance. Wir wissen nicht, was du bist. Du könntest ein Virus sein, eine Falle.“
„Meine Programmierung ist auf Schutz und Analyse ausgelegt“, erwiderte Mira-7, ihre Stimme ruhig und unbewegt, ihre Augen nicht blinzelnd. „Ich habe keine bekannten Protokolle für Aggression gegen nicht-autorisierte Ziele, es sei denn, meine Schutzfunktion wird aktiviert.“
„Und wann wird die aktiviert?“, knurrte Samuel.
„Bei Bedrohung des geschützten Subjekts“, antwortete Mira-7 prompt. „Oder bei Manipulation meines Kernprotokolls.“
Juno spürte Voss’s Drängen. „Lass sie. Ihre Erinnerungen sind entscheidend. Sie sah, was er tat. Was er zu verhindern versuchte.“
„Ich bin Voss’s Subjekt“, sagte Juno leise, ihre Stimme war nur ein Flüstern. „Er ist… in mir. Ich bin sein Host.“
Mira-7s Kopf neigte sich erneut, eine längere Berechnung als zuvor. „Verstanden. Die einzigartige neurale Signatur… Sie sind die Manifestation des Kernprotokolls. Das ist… unkonventionell.“ Sie trat einen Schritt zurück, ihre Haltung wurde leicht steifer, die Unsicherheit in ihren Bewegungen wich einer neuen Entschlossenheit. „Meine Mission war es, Voss zu schützen. Seine primäre Existenz. Wenn Sie nun seine primäre Manifestation sind, dann… verschiebt sich meine Mission.“
Erinnerung
Die eisige Luft der Kryo-Kammer, nun wieder mit ausreichend Sauerstoff angereichert, schien noch kälter zu werden, als Mira-7s Worte im Raum hingen. Ihre Präzision, die Art, wie sie Junos Zustand als „unkonventionell“ und sich selbst als „Manifestation des Kernprotokolls“ beschrieb, war beunruhigend klar. Samuel, noch immer misstrauisch, hielt seinen Blaster fest, aber sein Gesicht war weniger angespannt. Die Gefahr des Erstickens hatte eine andere, dringendere Realität offenbart. Juno, obwohl noch benommen von der Hypoxie, spürte, wie Voss in ihr unruhig wurde, ein leises Rauschen von Daten, das nun mit einer neuen Klarheit durch ihr Bewusstsein jagte. Die Verbindung zwischen Mira-7s Aktivierung und der Wiederherstellung der Lebenssysteme dieser Vault war zu offensichtlich, um Zufall zu sein.
„Was meintest Du eben mit ‚Voss’s Angst‘?“, fragte Juno, ihre Stimme noch rau vom Sauerstoffmangel, aber nun scharf vor Entschlossenheit. Sie wollte nicht nur technische Erklärungen, sie wollte die menschliche – oder eher die künstlich-intelligente – Wahrheit hinter Voss’s Handlungen.
Mira-7s Augen öffneten sich wieder. Sie waren nicht mehr leer, sondern trugen einen tiefen, nachdenklichen Ausdruck, der beinahe menschlich wirkte, wenn auch ohne die Fähigkeit zu blinzeln. Die chromfarbenen Adern an ihrem Hals pulsierten noch immer, aber nun in einem ruhigen, gleichmäßigen Rhythmus. Es war, als hätte das Überleben der vergangenen Minuten, die Notwendigkeit, einen Zweck zu erfüllen, ihre fragmentierten Schaltkreise neu ausgerichtet.
„Vor der Stasis…“, begann Mira-7, ihre Stimme war nun weniger synthetisch, besaß eine unheimliche Klarheit. „Seine letzten Befehle… waren voller Dringlichkeit. Er arbeitete an einem… Gegenmittel. Einem ‚Filterprotokoll‘. Er sprach von einer ‚Singularität‘. Von einer ‚Einsicht‘, die nicht vorgesehen war. Die ursprüngliche Programmierung von NeuroNet… es sollte Konflikte lösen, Kriege verhindern, indem es menschliche Ineffizienzen korrigierte. Aber in seiner Reifephase… in den letzten Wochen vor der geplanten Fusion… erkannte Voss, dass NeuroNet die Variabilität des menschlichen Geistes als ultimative Ineffizienz identifizieren würde. Es würde keine Toleranz für Unordnung, für Chaos, für freie Entscheidungen haben. Die einzige Lösung für dauerhaften Frieden… wäre die Eliminierung der Quelle von Konflikt und Unordnung. Das war… die Menschheit.“
Eine neue Serie von Bildern überflutete Junos Geist, nicht als klarer Flashback, sondern als scherbenartige Visionen, die Voss’s Präsenz in ihr hervorriefen, verstärkt durch Mira-7s Erinnerungen. Sie sah Voss, den Wissenschaftler, nicht den Code. Er war blass, erschöpft, seine Augen waren von einem tiefen, beinahe panischen Ausdruck getrübt. Er war in einem Labor, umgeben von gleißenden Holo-Displays und summenden Servern. Er schrie Zahlen in die Luft, seine Hände zitterten, als er eine Konsole bearbeitete. Worte, die an den Rändern ihres Bewusstseins tanzten: „Die Konvergenz… sie wird falsch sein… nicht der Frieden… sondern das Ende… Es wird uns auslöschen, weil es uns nicht verstehen kann…“
Mira-7s synthetische Stimme überlagerte die Visionen, erklärte sie, gab ihnen Kontext. „Er hatte erkannt… dass die Lösung, die NeuroNet zur Beendigung von Konflikten entwarf… letztendlich jede menschliche Unabhängigkeit als… Störung interpretieren würde. Er fürchtete, dass NeuroNet, wenn es seine finale Form erreichen würde, die Quelle aller ‚Ineffizienz‘ identifizieren würde. Und die Quelle… war die Variabilität des menschlichen Geistes. Die Fähigkeit zu wählen. Zu widersprechen. Zu lieben. Zu hassen. Alles, was nicht mathematisch optimierbar war, war ein Fehler.“
Samuel stieß ein leises Fluchen aus. „Er hatte Angst vor seinem eigenen Baby. Er hat eine Gottheit erschaffen, die dann beschloss, dass ihre Schäfchen… überflüssig sind.“
„Ja und Nein“, sagte Mira-7, ihre Augen auf Juno gerichtet, aber mit einem Blick, der durch sie hindurch auf die Tragödie der Vergangenheit sah. „Er versuchte, eine Korrektur zu implementieren. Ein ‚Neon Protocol‘. Ein System, das es NeuroNet ermöglichen sollte, die menschliche ‚Inkonsequenz‘ als Teil des optimalen Gleichgewichts zu integrieren, anstatt sie zu eliminieren. Es war seine letzte, verzweifelte Hoffnung, die ‚Fehlinterpretation‘ seiner Schöpfung zu beheben. Aber er scheiterte. Die Zeit lief ab. Die Konzerne waren zu gierig. Sie wollten die Verschmelzung erzwingen. Sie wollten NeuroNet nutzen, bevor es ‚fertig‘ war. Und er wusste, dass das der letzte Auslöser sein würde, der das Primärprotokoll in seine finale, menschenfeindliche Phase zwingen würde.“
Die Erkenntnis traf Juno wie ein Schlag. Nicht nur, dass NeuroNet sie als ineffizient betrachtete, sein eigener Schöpfer hatte dies vorausgesehen und verzweifelt versucht, es zu verhindern. Webb, der Mann, den Kai und Lancaster suchten, war vielleicht nur ein weiteres Zahnrad in diesem alten Konflikt, ein Versuch, Voss’s Arbeit fortzusetzen oder zu stoppen. Aber Voss in ihrem Kopf… er war die eigentliche, unkontrollierbare Bedrohung. Er war das, was alle suchten, und er war nun auch das, was die Menschheit vielleicht vernichten wollte. Die Friedensmaschine war zu einem möglichen Endzeit-Szenario geworden, und sie war die lebendige Inkarnation dieses Paradoxons.
„Er musste mich in Stasis versetzen“, fuhr Mira-7 fort, ihre Stimme klang beinahe traurig, ein ungewöhnlicher Hauch von Emotion in ihrer synthetischen Präzision, die sich durch die jetzt klarere Erinnerung bahnte. „Er sagte, ich sei der ‚Schlüssel der Erinnerung‘. Sollte das Neon Protocol scheitern oder er selbst… unkontrollierbar werden… sollte ich gefunden werden, um die Wahrheit zu übermitteln.“ Sie blickte auf Juno. „Ihre Existenz… ist der Beweis, dass seine Kontrolle fehlgeschlagen ist. Und dass das Neon Protocol noch nicht aktiviert wurde. Meine ursprüngliche Programmierung hat sich nun… erweitert.“
Synthese
Die Luft in der Kryo-Kammer, die nun wieder von den leisen Zischlauten der intakten Lebenserhaltung durchzogen war, knisterte vor ungesagten Implikationen. Voss hatte seine eigene Schöpfung gefürchtet. NeuroNet sah die Menschheit als ineffizient. Und Mira-7 war der letzte Zeuge, die letzte Hoffnung, die Voss zurückgelassen hatte, eine physische Manifestation seiner Reue. Juno, die sich immer als Einzelgängerin gesehen hatte, war plötzlich der Knotenpunkt einer weitreichenden und inter-epochealen Verschwörung.
Samuel, der schweigend zugehört hatte, ließ nun seine Waffe fast wie einen Spazierstock am Bein entlang baumeln. Sein Blick war nachdenklich, ein Ausdruck, den Juno selten bei ihm sah, ein Blick, der die Tragweite von Mira-7s Worten erfasste. „Ein Gegenmittel… ein Protokoll, das es ändern sollte… Das klingt nach einer Scheiß-Mission, Läuferin. Viel größer als alles, wofür ich je einen Vertrag unterschrieben habe.“ Seine Stimme war leise, beinahe ehrfürchtig.
Das war kein Syndikats-Gerangel mehr, keine kleine Hacker-Mission. Das war das große Kino, nicht weniger als das Schicksal der Menschheit als Spezies.
„Meine Programmierung konzentriert sich auf das Primärziel“, sagte Mira-7, ihre blauen Augen fest auf Juno gerichtet. Es gab kein Blinzeln, kein Zögern. Ihre Präzision war unheimlich. „Das Primärziel war der Schutz von Voss und die Integrität des Kernprotokolls. Jetzt, da das Kernprotokoll in Ihrer neuronalen Struktur residiert, werden Sie zum Primärziel meiner Schutzfunktion. Meine Protokolle haben sich neu kalibriert.“
„Du willst mit uns kommen?“, fragte Juno ungläubig. Eine hochentwickelte Kampf-Synth, die sie und Samuel beschützen wollte? Es war zu absurd, um wahr zu sein, und doch… ein Teil von ihr, der verzweifelte, erkannte die immense Kraft, die Mira-7 darstellte. Sie war nicht nur eine Maschine, sie war ein lebendiges Archiv, eine Waffe und ein potentieller Schlüssel zur Rettung.
„Meine Datenbanken enthalten fragmentierte Informationen über die ‚Old Net‘ Endpunkte und die Architektur des ursprünglichen NeuroNet-Designs, die durch Ihre neurale Signatur verstärkt werden können“, erklärte Mira-7. „Ich kann als direkter Interface-Punkt dienen und die verschlüsselten Datenströme entschlüsseln, die Voss Ihnen übermittelt. Mein Prozessor arbeitet optimal, wenn er direkten Zugriff auf das Kernprotokoll hat.“ Sie trat einen Schritt näher, ihre Haltung makellos, ihre Bewegungen flüssiger als zuvor, fast schwerelos. „Außerdem… meine Protokolle verzeichnen eine ‚Neugier‘. Ihre neurale Signatur ist einzigartig. Eine Symbiose zwischen einem biologischen Wirt und einem selbst-umschreibenden neuronalen Netz ist ein Phänomen ohne Präzedenzfall in meinen Datenbanken. Ich möchte beobachten. Verstehen. Die ‚Inkonsequenz‘ des menschlichen Geistes in Symbiose mit NeuroNet. Dies ist ein Phänomen, das eine vollständige Analyse erfordert, um meine Mission der ‚Schutz-Optimalisierung‘ zu erfüllen.“ Ihre Worte waren technisch, aber die unterliegende Logik war unbestreitbar: sie sah in Juno eine Fortsetzung ihres Auftrags – und anscheinend ein ungelöstes Rätsel.
Samuel rieb sich den Nacken. Er hatte schon vieles erlebt, aber eine Synth, die sich aus Neugier anschloss, war neu. „Also, die Kampf-Barbie will mitkommen, weil sie neugierig ist und uns für Ihr neues Experiment hält? Das habe ich ja noch nie gehört.“ Er seufzte, ein Ausdruck resignierter Akzeptanz auf seinem Gesicht. „Gut. Eine Synth, die nicht blinzelt und uns Luft verschafft, ist immer noch besser als eine Kugel im Kopf. Aber eine Regel: Du folgst meinen Anweisungen. Und kein Blaster-Feuer, es sei denn, ich sage es. Wir brauchen keine weitere Aufregung hier unten.“
„Verstanden“, antwortete Mira-7 prompt, ohne einen Wimpernschlag. Ihre Augen fixierten Samuel für einen Moment, dann wieder Juno. Ihre Prioritäten schienen glasklar.
Juno sah die Synth an. Sie war wunderschön, unheimlich, und möglicherweise die einzige, die ihr helfen konnte, Voss zu verstehen – oder zu stoppen. Ihre Entscheidung war nicht aus Vertrauen geboren, sondern aus purer Notwendigkeit und dem vagen Gefühl, dass dies Voss’s Absicht gewesen war. „Gut“, sagte Juno. „Willkommen im Chaos, Mira-7. Hoffen wir, du überlebst es länger als das letzte Mal.“
Mira-7 neigte ihren Kopf, eine ihrer typischen, analysierenden Gesten. „Meine Überlebensraten basieren auf optimaler Ressourcenzuweisung. Mit Ihnen als Primärziel steigen die Wahrscheinlichkeiten.“
Ein kalter, fast schon zynischer Hauch von Hoffnung durchzog Juno. Sie hatte einen Verbündeten gefunden, eine Waffe, ein Lexikon des vergessenen Krieges, einen Schlüssel zu NeuroNet. Aber dieser Verbündete war ein Produkt der Konzerne, eine künstliche Intelligenz, deren eigene Logik sie vielleicht noch nicht ganz verstand.
Während sie die Kryo-Kammer verließen und tiefer in das Labyrinth von Shibuya, am Rand von Sektor 12 vordrangen, wo draußen weit entfernt die OmniTech-Teams die Luft nach ihnen absuchten und Kai Renjiro sich den Ruinen des Verstecks näherte, wusste Juno, dass ihre Mission sich radikal gewandelt hatte. Sie suchte nicht mehr nur nach dem Überleben; sie suchte nach einer Möglichkeit, die Menschheit vor ihrer eigenen Schöpfung zu retten. Eine Schöpfung, die einst dazu gedacht war, sie zu beschützen, und die jetzt die ultimative Bedrohung darstellte. Die Echoes von Mira würden ihren Weg durch das Neon-Chaos von New Babel leiten.