Neon 系列 Ashes: 2183 – Kapitel 2

[ II ] Konvergenz im Slum

Rattenloch

Das Adrenalin pumpte noch immer durch Junos Venen, als sie und Samuel Calder in die tieferen und noch stärker verfallenen Bereiche von Sektor 12 flüchteten. Das Surren der Syndikatsdrohnen verhallte langsam in der Ferne, ersetzt durch das leise Ächzen der rostigen Rohre und das gedämpfte Gurgeln des Abwassers das den modrigen Geruch des Verfalls mit sich trug. Es war eine Symphonie der Trostlosigkeit, ein ständiges Erinnern daran, dass dieser Ort lebte, atmete, aber nur in seinem eigenen, elenden Rhythmus. Es war die Signatur des Sektors, den die Bürger der oberen Ebenen voller Verachtung „Rattenloch“ nannten.

Samuels Oberarm blutete nun nicht mehr, das CMM hatte offensichtlich seine Arbeit verrichtet. Nur ein dunkler, schimmernder Fleck auf seiner verdreckten Jacke zeugte noch von der Wunde. Er schien den Schmerz durch sein Bio-Dämpfer Implantat in Schach zu halten, eine kühle Effizienz, die Juno gleichermaßen beeindruckte und misstrauisch machte. Sein Gesicht, eindrucksvoll markiert von Chromelementen die unter seinen tiefen Narben hervortraten, verriet nichts, eine Maske aus Härte und Entschlossenheit. Ihr kurzlebiges, erzwungenes Bündnis hing schwer zwischen ihnen, eine zerbrechliche Brücke über einem Abgrund von Argwohn. Dieses Misstrauen war die Währung des Slums, und davon hatten beide einen Reichtum angesammelt. Es war die einzige Überlebensstrategie hier unten, ein ständiges Abwägen von Motiven, ein Tanz auf dünnem Eis, bei dem ein falscher Schritt den Tod bedeuten konnte. Sie kannte diese Dynamik nur zu gut, hatte Sie doch ihr ganzes Leben im Daten-Underground von New Babel verbracht.

Samuel lehnte sich gegen die verrostete Wand des engen Spaltes, in dem die beiden Deckung gefunden hatten. Er untersuchte kurz die Wunde an seinem Oberarm und sah in die Dunkelheit, als würde er die unsichtbaren Gefahren abtasten, die in jeder Ecke lauerten. „Das war kein Streifschuss, ich kann das Projektil spüren. Wir müssen untertauchen“, sagte er, seine Stimme rau, ein wenig heiser, aber bestimmt. Er blickte über die Schulter zurück, als könnte er die Drohnen noch hören, ein Reflex aus Jahren der Verfolgung. „Diese Enforcer haben uns jetzt auf dem Schirm. Und wenn Sie den Ping aufgeschnappt haben…“.

Seine Worte hingen in der feuchten Luft, gefüllt mit einer unausgesprochenen Drohung. Juno spürte, wie sich ein kalter Knoten in ihrem Magen festzog. Sie wusste, dass „der Ping“ nicht nur ein Signal war, sondern eine Verurteilung, ein digitaler Fingerabdruck, der sie für immer als Gejagte markieren würde.

Juno zwängte sich durch den Spalt neben ihm, das Quietschen des verbogenen Metalls hallte in der engen Gasse wider. Ihr kybernetisches linkes Auge leuchtete schwach violett im Dämmerlicht, scannte die Umgebung nach Anzeichen von Gefahr, ihre Finger tanzten unruhig auf ihren Oberschenkeln, als würden sie unsichtbare Code-Rhythmen tippen. „Den Ping? Du weißt also, was das ist. Was Voss ist?“, fragte sie, ihre Stimme kurz und prägnant, eine Mischung aus Neugier und Misstrauen. Sie kannte Voss nur als eine Stimme in ihrem Kopf, eine verstörende Präsenz, die seit dem Vorfall in Ihrem Versteck an ihr haftete. Eine Stimme, die Wissen und Angst gleichermaßen ausstrahlte, und die sie unweigerlich in diese gefährliche Allianz mit Samuel getrieben hatte.

Samuel zögerte, seine Augen verengten sich, ein Schatten huschte über sein gezeichnetes Gesicht. „Voss war eine Legende. Das Herzstück des NeuroNet-Protokolls“, sagte er schließlich, seine Worte langsam und überlegt. „Wenn seine Stimme in deinem Kopf ist, bist du ein wandelndes Geheimnis. Und ein wandelnder Konfliktpunkt.“ Er stieß sich von der Wand ab und ging weiter, seine Bewegungen waren geschmeidig, trotz seiner Größe und der Verletzung. Juno folgte ihm, ihr Geist raste. NeuroNet. Der Name allein war genug, um Schauer über ihren Rücken zu jagen. Und Voss, der… nein, wie hatte Samuel ihn genannt? Die Legende, war der Schlüssel dazu?

Voss’s Stimme, jetzt eine subtile Präsenz in Junos Geist, flüsterte: „Er spricht die Wahrheit. Die Gefahr ist real. Wir müssen uns einem sicheren Knotenpunkt nähern, um meine Daten zu entpacken. Dann kann dir den Weg zeigen.“ Flackernde, schemenhafte Konturen überlagerten Junos Sichtfeld, direkt in ihrem visuellen Cortex generiert. Ein unvollständiges, veraltetes digitales Leitsystem, doch makellos implementiert. Sie entschied spontan diese neue Information für den Moment für sich zu behalten.

Samuel führte sie in das Herz eines verborgenen Nervenknotens des Untergrunds: Ein Club, halb Cyber-Wettbüro, halb Spielhalle, eingegraben unter den fauligen Eingeweiden eines alten Synth-Fleisch-Verarbeitungsbetriebs. Der Geruch – eine Mischung aus verbranntem Protein, alten Kabeln und einem Hauch von synthetischem Blut – war widerlich, aber er verhieß Sicherheit. Die gesamte Umgebung war ein Labyrinth aus verlassenen Hallen, rohen Schächten, schmuddeligen Gängen und versteckten Räumen, perfekt zum Untertauchen in der fließenden Architektur des Slums. Ein Ort, der lebte und atmete in seinem eigenen, seltsamen Verfall.

Samuel klopfte eindringlich an die stählerne Tür eines unscheinbaren Seiteneingangs, der mit Rost wie eine zweite Haut überzogen war. Das Klicken des Schlosses war das Geräusch eines alten Mechanismus, der sich weigerte, aufzugeben. Sie wurden von einem zahnlosen Mann mit glänzenden, viel zu wachen Augen und einem verwilderten, schlohweißen Bart empfangen, der ein breites, feuchtes Lächeln zeigte. Er nickte Samuel zu, als würde er einen alten Freund sehen, der wieder einmal bis zum Hals im Abwasser steckte. „Na, Sam,“ krächzte der Alte, den sie Pox nannten. Seine Stimme war wie das Schleifen von Draht auf altem Beton. „Schon wieder Ärger? Scheint, als würden die alten Seilschaften reißen. Nun gut, kommt rein, die Zeit wartet nicht auf kaputte Puppen.“

Ihr kybernetische Auge scannte die zerfallende Physiognomie von Pox, war sich nicht ganz sicher, woher sie ihn kannte. Aber sie konnte schwören, sie hatte diesen Mann schon einmal gesehen. Er wirkte sofort vertraut, eine tiefe, fast unangenehme Resonanz in ihrem neurologischen Speicher, die nach einer Verbindung suchte, die sie nicht fassen konnte. War es ein Gesicht aus einem alten Datensatz? Ein verrauschtes Video aus dem OldNet?
Ein paar Meter weiter in einem mit allerlei kitschig anmutenden Relikten vergangener Zeiten verzierte Gang – als Highlight ein verirrter Gartenzwerg mit orangenem Megaphon neben einer zerbrochenen VR-Brille – öffnete Pox, den Juno in ihrem Kopf kurzerhand als „Onkel Bob aus Sonstwo“ archivierte, den beiden eine weitere, ebenfalls stählerne Tür.

Pox dirigierte sie in einen weiteren Raum, dessen Wände bis zur Decke mit hellen Fliesen bedeckt und rundum mit verchromten Stahlapplikationen versehen waren. In der Ferne hörte man das freudige Rasseln von Casino-Chips und das gedämpfte Wummern des Treibens aus der Spielhalle – die rhythmische Kakophonie der Zocker. Mit Ausnahme der dürftigen metallenen Bestuhlung und eines Rollwagens voll Werkzeug strahlte der Raum eine beinahe klinische Sterilität aus. Pox bedeutete Samuel mit einem knappen Kopfnicken, sich auf einen der Rosthocker zu setzen, dessen scharfe Kanten Samuel ignorierte.

„Wie laufen die Geschäfte, Pox?“ sagte Samuel, seine Stimme trocken, ohne unnötige Betonung. „Hab gehört, neulich hatte wieder jemand einen Lauf?“

„Elendes Glücksschwein,“ murmelte Pox. Er spuckte in einen rostigen Becher, das Geräusch war stumpf und endgültig. Seine Finger, alt und knotig, aber überraschend geschickt, griffen nach einer Pinzette und einem Cyber-Skalpell. Er begann, die Wunde an Samuels Arm zu säubern und das Projektil der Drohne zu entfernen. Samuel zuckte nicht einmal zusammen, seine Muskeln waren wie Stahlplatten unter der Haut, sein Gesicht eine Maske der Apathie. Die Routine der Schmerzensbewältigung, mit oder ohne Bio-Dämpfer, war fast beängstigend perfektioniert.

„Das ist die Datenläuferin, Pox,“ Samuel nickte in Junos Richtung, seine Augen blieben auf Pox‘ konzentrierte Bewegungen fixiert. „Sie hat… eine sehr sensible Ladung. Wir müssen das Signal stabilisieren.“

Das Skalpell roch leicht nach verbranntem Fleisch, als es sich erhitzte. Pox glänzenden Augen trafen Junos, ein Blick, der nicht zu lesen war, der aber eine seltsame, fast wissende Tiefe besaß. „Sensible Ladung.“ Er setzte das heiße Skalpell an Samuels Arm an, die Luft zischte leise, als das Gewebe kauterisiert wurde. „Immer die großen Worte, Sam. Erinnerst du dich an die ’sensible Ladung‘ in Sektor 7? Als der verdammte Netzknoten kollabierte?“

Samuel kniff nicht einmal seine Augen zusammen, nur seine Stimme wurde härter, ein kalter, metallischer Unterton. „Das war anders. Da wussten wir, dass es aussichtslos war.

„Jeder außer dir, offensichtlich.“ Pox wickelte den synthetischen Verband um Samuels Arm, seine Finger arbeiteten präzise wie die einer Maschine, die ihren Zweck kannte. „Du bist rein, als gäbe es kein Morgen. Hast verzweifelt versucht, den kompletten Datenspeicher mit deiner bloßen Faust freizuschlagen, du verdammter Idiot.“ Er winkte ab, das Grinsen auf seinem zahnlosen Mund schwenkte zu Juno. „Wir mussten damals diese alten Übertragungsbänder sichern, bevor der Schmelzkern alles in Synth-Asche verwandelte. Jeder wusste, dass es Selbstmord war. Was ist daraus geworden? Eine Explosion und ein halbes Syndikat am Arsch.“ Pox schüttelte den Kopf, das Grinsen tiefer, fast amüsiert. „Manchmal, Sam, manchmal musst du wissen, dass du die Zähne nicht überall rein rammen kannst. Ist das hier die gleiche Art von deinem ‚aussichtslos‘, nur größer?

Juno, die das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte, verstand die Parallele. Die Situation mit Voss war nicht nur gefährlich; sie war ein Himmelfahrtskommando gegen die systemische Übermacht, ein digitales Seilspringen über einem Abgrund voller Black ICE, genau wie die aussichtslose Rettungsaktion, von der Samuel und Pox sprachen. Sie wusste, dass jede verlorene Sekunde die Wahrscheinlichkeit eines totalen Systemversagens erhöhte. Sie ging zu einem der vergilbten Terminals, dessen Bildschirm wie ein getrübtes Auge in der Halbdunkelheit glomm, und begann, ihre neuralen Schnittstellen vorzubereiten. Ihr Ziel war klar: Direkt in die Ursprungsadresse einzudringen, die Voss ihr genannt hatte – ein digitaler Zugangspunkt, dessen Koordinaten sich in ihrem Kopf festgesetzt hatten wie eine unveränderliche Konstante.

„Moment mal, Kind,“ knurrte Pox, seine Hand schnappte nach Junos Arm, schneller als man es von seinem Alter erwarten würde. Seine Augen, die eben noch so glänzend und amüsiert gewesen waren, wurden ernst, dunkel wie das Glas einer ausgelaufenen Batterie. „Was hast du vor? Direkt rein in den Host? Du bist jetzt ein Sender, ein offenes Ohr für jeden Scheiß, der da draußen sucht. Wenn du von hier aus irgendwas sendest, gehen wir hier alle ratz-fatz hoch. Das ist kein Ort für unnötige Signatur. Hier gibt’s keine Luftschlösser aus Nullen und Einsen, nur kalten, harten Tod.“

Juno zögerte. Der alte Mann hatte Recht, seine Logik war so unerbittlich wie der Geruch von saurem Regen. „Ich muss zu den Daten. Voss sagt, da ist ein Weg.“ Ihre Stimme war fest, aber ihre inneren Algorithmen liefen auf Hochtouren, bewerteten das Risiko neu.

„Ein Weg ist gut,“ murmelte Pox. Er spuckte beiläufig auf den gefliesten Boden, seine Geste ein Kommentar zur Sinnlosigkeit menschlicher Vorsicht in dieser Welt. „Aber nicht über meinen Knotenpunkt, klar? Wir machen das anders.“ Er kramte durch die unteren Fächer in seinem Werkzeugwagen und zog eine mit Kabeln übersäte Konsole hervor. Sie sah aus wie ein zu oft zerlegtes, heruntergekommenes Spielzeug zum Knobeln, wieder und wieder zusammengebaut nur mit einem Hammer, aber unter der Patina lag auch eine kalte, funktionale Eleganz. Voller Stolz präsentiert: „Das ist mein Multi-Hop-Modulator, selbst gebaut. Die Schaltung wechselt alle hundert Millisekunden. Wir verbinden ihn mit den billigsten Anbietern im gesamten Netz – ein mobiles Einwahlprotokoll, das sich so alle paar Sekunden neu authentifiziert, ein digitales Chamäleon. Dein Signal springt dann quer durch New Babel, als Phantom im Äther, das keiner verfolgen kann. Es wird langsam sein, ja, die Latenz wird dich ankotzen, aber du wird unsichtbar sein. Eine reine, transiente Existenz im Netz.“

Juno sah die wild konstruierte Hardware an. Der Anblick war seltsam, fast organisch in seiner rohen Funktionalität, eine Maschine, die nicht nur für Effizienz, sondern für ein Überleben in den Zwischenräumen der Systeme geschaffen war. Pox’s Logik dahinter war unbestreitbar, eine kalte Arithmetik des Risikos. „Von mir aus“, sagte sie und nahm das klobige Gerät entgegen, dessen erstaunlich geringes Gewicht sie überraschte, eine physische Manifestation der Unsichtbarkeit.
Ihre visuelle Speichereinheit klassifizierte ein Bild des Modulators mit den Tags: „Onkel Bobs Vorschul-Wissenschaftsprojekt, Schuhkarton, Alufolie, Kabelreste. Verstohlenheit +10“

Erst jetzt, als die Verbindung über Pox’s Modulator gesichert war und die ersten Sprünge des Signals durch die unterirdischen Leitungen zischten, begann auch Voss wieder zu ihr zu sprechen. Seine Stimme, nun klarer denn je, schien direkt in Junos Synapsen zu resonieren, keine Worte, sondern reine Datenimpulse: PRIMÄRES ZIEL. DATENKERN ZUGRIFF.

Labyrinth

Ungefähr zur gleichen Zeit als Juno und Samuel bei Pox eingetroffen sind, betrat Kai Renjiro den Sektor aus Richtung Norden wie ein Geist, der zwischen den Welten wandelte. Der Kontrast zu den sterilen Korridoren des Tower of Babel war brutal. Überall Lärm, Gerüche und ein Gefühl von bedrückender Energie. Sektor 12 war kein einfacher Stadtteil; es war eine monströse, organisch gewachsene Wucherung, die die halbe Küstenlinie der Bucht von New Babel umfasste und sich wie eine offene Wunde um den Fuß des XSeed4k legte. Ein undurchdringliches Labyrinth aus provisorischen Bauten, schiefen Türmen und dunklen, von Abwasser durchzogenen Gassen. Hier jemanden zu finden, der nicht gefunden werden wollte, war wie das Suchen einer einzelnen verschwundenen Zelle in einem gigantischen, kranken Organismus.

Sein obsidianfarbenes Auge scannte unauffällig die Umgebung, suchte nach neural-energetischen Signaturen, die Aris erwähnt hatte. Sein Blick wanderte über die Graffiti-bedeckten Wände, die die Namen der Gefallenen und Slogans der Widerstandsbewegungen trugen. Durchhalteparolen. „Es gibt immer einen Weg. Aber es wird nicht einfach sein“. Auch das verhöhnende „⅄“-Graffiti, das den XSeed4k darstellte, war hier allgegenwärtig, eine stille Rebellion der Unterdrückten, die Renjiro mit analytischer Distanz registrierte.

Die erste Stunde verging ohne greifbaren Erfolg. Erhaben geschmeidig bewegte er sich durch die Menschenmassen, seine Sinne scharf, seine Biometrie-Scanner auf Empfang. Doch die Dichte der menschlichen und technologischen Signaturen in Sektor 12 machte eine präzise Ortung quasi unmöglich. Mehr als einen groben Suchradius gab die ursprüngliche Meldung nicht her.

Er sah ein junges Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, das einen klapprigen Karren voller vergammelter Synth-Früchte und zweifelhaft aussehenden Datenchips vor sich herschob. Der Karren quietschte bei jeder Umdrehung. Renjiro hielt inne. Sie erinnerte ihn an seine Schwester Yuki, bevor BioDyne sie beide „rekrutiert“ hatte. Bevor die Experimente begannen.

„Was hast du da anzubieten, Kleines?“, fragte er, seine Stimme überraschend sanft für seine Erscheinung. Das Mädchen zögerte, ihre Augen waren vorsichtig. „Früchte, Sir. Und… alte Daten. Günstig.“ Renjiro nahm eine der verdorben aussehenden Synth-Birnen in die Hand. „800 NewYen für diese?“, fragte er, wissend, dass sie optimistisch betrachtet 20 wert war. Das Mädchen nickte zögernd. Renjiro zückte sein Datapad, die Transaktion blitzte auf. „8000 NewYen“, sagte er leise, als das Geld transferiert wurde. Das Mädchen starrte auf ihr eigenes Datapad, ihre Augen weiteten sich vor ungläubiger Überraschung. Es war ein Vielfaches dessen, was sie sonst an einem Tag verdiente.

„Ist heute hier in der Gegend etwas besonderes passiert?“ fragte Renjiro unverblümt. Das Mädchen zögerte erneut. „…nein, Sir. Nichts passiert. Nein… nein, Sir,“ wiederholte das Mädchen, aber ihre Augen zuckten unwillkürlich in Richtung der Gassen hinter ihr. Da gab’s… da gab’s viel Licht. Und Lärm. Viel Lärm. Und jetzt ist es da drüben so… warm.“ Sie zeigte mit einem flüchtigen Nicken in die Richtung des Viertels, als ob sie eine lästige Erinnerung abschütteln wollte. „Macht, äh… macht alles kaputt, der Lärm.“ Ihre Stimme sank zu einem Flüstern, „Manchmal riecht es auch immer noch verbrannt, Sir. Aber sonst… nichts. Wirklich nichts.“ Sie blickte schnell wieder auf ihr Datapad, als wäre das Geld das Einzige, was zählte. Renjiro nickte ihr knapp zu und verschwand in der nächsten Gasse, die bezahlte Synth-Birne immer noch in seiner Hand, eine stille Botschaft der ungleichen Macht und einer seltsamen Großzügigkeit. Die Information, die er indirekt durch die kurze Interaktion mit der lokalen Ökonomie gewonnen hatte, war den Aufpreis wert. Vielleicht würde sie heute Nacht nicht hungern. Ein kleiner Akt der Rebellion gegen eine Welt, die selbst Kinder wie schäbige Waren behandelte.

Es war nicht viel. Aber es war menschlich.

„Aris, ich benötige eine weitere Statusaktualisierung. Die Umgebung bleibt zu dicht für präzise neuronale Signaturen“, flüsterte er in seinen Com-Link. Fokussuche südwestlich meiner Position.

„Arbeit läuft, Kai“, kam Aris‘ präzise Antwort. „Der Algorithmus optimiert sich, die Anomalie bleibt jedoch flüchtig. Wir haben hier einen neuen Hinweis, aber er ist… ungewöhnlich. Auswertung folgt.“

Zwei Blocks weiter in Richtung die Ihn das kleine Mädchen schickte, wurde ihm der Weg von zwei kräftigen Schlägern versperrt. Ihre Körper waren mit billigen Cyber-Implantaten übersät, offensichtlich in irgend einer schäbigen Hinterhofwerkstatt stümperhaft aus Schwarzmarktbeständen und gestohlenen oder aussortierten, teildefekten Resten zusammengeflickt. Ihre Augen eindeutig von Drogen getrübt, müsste man die beiden ausschließlich nach Größe der Pupillen einschätzen, man würde Ihnen auch fast glauben dass Sie sich von nichts anderem ernähren. Sie waren Teil einer lokalen informellen „Steuer“-Patrouille.

„Was verschlägt dich in unsere Gasse, Spießer?“, knurrte einer, seine verstärkte Hand griff nach einem groben Schlagring.

Renjiro hielt inne, seine Hände blieben ruhig an seinen Seiten. Er scannte ihre Biometrie, ihre Waffen, ihre Aggressionslevel. „Ich suche nach einem Geschäftspartner“, sagte er, seine Stimme ruhig und kontrolliert. „Ich habe keine Absicht, Probleme zu verursachen. Ich bin nur auf der Durchreise.“

„Durchreise? Nicht ohne unsere Genehmigung“, bellte der andere und hob seinen modifizierten CyberArm der mit einem Monowire ausgestattet war, ein scharfer, dünner Draht der um ein drittel kürzer als ein Standardmodell wirkte. Er schwang den Draht bedrohlich wie eine kurze Peitsche in Lauerstellung. Siegessicher hechtete er vorwärts und versuchte einen Treffer zu landen.

Schneller als die Augen es erfassen konnten, war Renjiro in Bewegung. Es war kein Kampf, eher eine elegante Demonstration von Kontrolle. Mit einer geschmeidigen Drehbewegung wich er dem ersten Schwung aus, seine Hand schnellte vor und schnappte sich das Handgelenk des Angreifers. Ein präziser Druck auf einen Nervenpunkt und der Schläger zuckte zusammen, seine Hand entspannte sich, der Monowire schnappte zurück in den Unterarm. Ohne Gewaltanwendung, ohne die Aufmerksamkeit der gesamten Gasse auf sich zu ziehen, hatte Renjiro diese Bedrohung neutralisiert. Der zweite Schläger sah es und stand wie versteinert, seine Augen verrieten einen Hauch von Angst. Instinktiv ließ er seinen Schlagring fallen. Renjiro trat zwei Schritte vor, bückte sich langsam, legte dem Schläger leise, aber bestimmt das fallengelassene Objekt wieder in die offene Hand. „Ich bin hier, um zu finden, nicht um zu kämpfen“, sagte er, seine Stimme war kaum ein Flüstern. Die Schläger sahen ihn an, verwirrt, aber eingeschüchtert. Sie traten zur Seite. Renjiro ging weiter, als wäre nichts geschehen. Seine Mission war zu wichtig für Zeitverschwendung mit Straßenschlägern, Junkies – oder wie in diesem Fall, beidem.

„Die neural-energetischen Signaturen sind immer noch unklar“, Aris‘ Stimme brach durch. „Aber ich habe einen neuen Algorithmus implementiert. Er filtert die ‚Alten Signale‘ besser heraus. Konzentrieren Sie sich auf Abschnitt 4, Kreuzung 31, in Nähe der alten Synth-Asche-Bunker. Die Daten deuten auf eine temporäre, aber intensive Energiekonzentration hin. Ein Aktivierungspunkt.“

Renjiro aktivierte einen verdeckten BioDyne-Scanner, der für seine Infiltrationsmissionen entwickelt worden war. Das System identifizierte nun die schwache, aber eindeutige Spur, die auf Harrison Webb hindeutete. Die Daten waren fragmentiert, wie von jemandem, der panisch versuchte, jede digitale Faser zu löschen. Renjiro folgte der Spur, die ihn durch überfüllte Märkte und heruntergekommene Wohnblöcke führte. Er vermied jede unnötige Konfrontation, seine Bewegungen waren so fließend, dass er kaum wahrgenommen wurde. Die Spur führte ihn zu einem Ort, der einmal eine Wohnung gewesen war, jetzt aber nur noch eine verkohlte Hülle. Junos ehemaliges Versteck.

Die Explosionen hatten ganze Arbeit geleistet. Die Wände waren geschwärzt, das Mobiliar zu geschmolzenen Plastik- und Metallklumpen reduziert. Der Geruch von verbranntem Isolierkabel und rußigem Beton hing schwer in der Luft, vermischt mit dem beißenden Geruch von Ozon – die Überreste einer hochenergetischen Entladung, die weit über das hinausging, was normale Waffen verursachen konnten. Hier hatte sich etwas größeres ereignet.

„Der Ping ist stärker hier“, informierte Aris‘ Stimme ihn. „Und er ist dynamisch. Er bewegt sich. Irgend jemand – oder irgend etwas.“

Renjiro untersuchte die Ruinen, scannte nach biometrischen Resten. Er fand keine eindeutigen Spuren von Webb, aber er fand Spuren einer zweiten Person, die Webb offensichtlich assistiert haben musste – und frische Spuren von Syndikats-Enforcern. Das bedeutete, Webb war möglicherweise in Konflikt geraten. Oder gefangen genommen worden. Renjiro nutzte ein präzises Wärmebildgerät und scannte die am schlimmsten getroffenen Stellen der Wohnung. In den Resten eines zertrümmerten Tischs der entfernt an eine improvisierte Küchenzeile erinnerte, unter einer Pfanne, die von der Detonation halbwegs intakt hinterlassen worden war, entdeckte er etwas. Es war ein kleines, etwa daumengroßes, lilanes Objekt, verziert mit schwarzen eingravierten kanji – die robuste, äußere Hülle eines Dataports. Das Material, ein hitzebeständiges Komposit, war beschädigt, aber immer noch intakt. Solche kundenspezifischen Gehäuse wurden von spezialisierten Untergrund-Moddern gefertigt, um sich von Standard-Tech abzuheben. Dieser Port hatte Webb wahrscheinlich nicht gehört, sondern der Person, die Webb begleitet hatte. Die Dringlichkeit erhöhte sich. Webb war zu wichtig, um ihn dem Syndikat oder noch schlimmer, OmniTechs Sicherheitstrupps zu überlassen, die auf ihre eigene Weise in Sektor 12 operierten.

Augusto

Dies war nicht nur ein Datenpaket, es war ein Lebewesen, das ihr half, seine eigene Natur zu entschlüsseln. Während Juno arbeitete, beobachtete Samuel sie. Seine Augen, die so viel gesehen hatten, schienen etwas Neues in ihr zu erkennen – und in sich selbst. Er wusste, dass seine Rolle über das eines einfachen Söldners hinausging. Er war in etwas viel Größeres verwickelt.

Nach mehreren erfolglosen Versuchen, die Daten zu stabilisieren, warf Juno frustriert ihre Hände in die Luft. „Das Signal zerfällt jedes Mal, wenn ich näher komme. Es ist, als würde Voss vor mir davonlaufen.“

Samuel lehnte sich gegen einen rostigen Träger und beobachtete sie. „Voss läuft nicht weg. Er wartet. Aber nicht auf dich.“ Er rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ich kenne da jemanden. Guter Mann, Ex-Corp, dieser Code ist wohl genau der richtige für jemand wie Ihn.“

Pox blickte von seinem Terminal auf, seine zahnlosen Kiefer verzogen sich zu einem breiten Grinsen. „Augusto? Ha! Du willst sie wirklich zum Geisterpriester bringen?“ Er kicherte. „Alles klar, auf zum Technomancer! Aber warnt sie vor, Sam. Der Alte sieht mehr, als gut für einen ist.“

„Geisterpriester?“ Juno runzelte die Stirn.

„Augusto kann mit toten Daten sprechen“, erklärte Samuel und stand auf. „Und wenn Voss wirklich das ist, was ich denke, dann brauchen wir jemanden, der versteht, wie man mit Geistern aus der Vergangenheit verhandelt.“

Sie stiegen hinab durch einen Wartungsschacht, der in ein noch schäbigeres Untergeschoss führte. Dort folgten Sie einem schmalen Gang, gesäumt von Rohrleitungen und Datenkabeln. Die Luft wurde dichter, erfüllt vom scharfen Geruch von Überhitzung und dem metallischen Ozon verbrannter Schaltkreise. Fein gespickt mit dem Geruch von faulendem Müll und Schweiß fiel ihnen das Atmen schwer in der feuchten Hitze, die aus den undichten Dampfleitungen aufstieg.
Samuel stoppte an einer Kreuzung, vor ihnen ein nicht enden wollendes Labyrinth aus dunklen Gängen, die sich wie die Adern eines kranken Organismus verzweigten. Er zog ein kleines, zerkratztes Gerät aus seiner Tasche, das wie ein Relikt aus einer vergangenen Ära aussah, eine Mischung aus einem Scanner und einem Kommunikationsfob, dessen Oberfläche von unzähligen Kampfspuren gezeichnet war.
Er sah sich um, hielt einen Moment lang inne als müsste er sich besinnen.

„Hier lang“, konterte Samuel barsch den Blick von Juno.

Sie folgten den Gängen, Abzweigungen und Kreuzugen bereits so lang, dass Juno schon glaubte sie hätten sich verlaufen, da blickte Samuel in eine unscheinbare Seitengasse. Bestimmt wies er ihr den Weg mit einer Geste als wolle er sagen Treten Sie ein, Mylady. Sie werden erwartet. Stattdessen platze plump aus ihm heraus: „Sind …da!“

Juno betrat vorsichtig Augustos Domäne, ein Raum, der aussah wie der Traum eines wahnsinnigen Ingenieurs – oder sein Albtraum. Dutzende von Monitoren verschiedener Generationen flackerten an den Wänden, manche zeigten kryptische Datenströme, andere pulsierten in hypnotischen Mustern. Dieser Anblick war etwas das aussah wie der verborgene Kern eines sterbenden Computersystems: Überall Oberflächen, die mit Terminals, Platinen und Bauteilen scheinbar willkürlich verbunden waren. Kabel, die wie dicke, metallische Lianen von der Decke herabhingen. Die Luft flimmerte, erfüllt von einem kaum hörbaren Summen. Veraltete Elektronik stapelte sich in präzisen Pyramiden, verbunden durch ein weiteres Netzwerk aus Kabeln über den Boden, das wie ein digitales Spinnennetz aussah. In der Mitte dieses technologischen Labyrinths saß Augusto.

Er war einst ein Mensch gewesen. Jetzt war er etwas anderes – eine Symbiose aus Fleisch und Maschine, die so weit fortgeschritten war, dass die Grenzen verschwommen waren. Sein Gesicht war zur Hälfte von einem Vorhang aus neuralen Kabeln verdeckt, die direkt in seine Schläfen und Augenhöhlen eingepflanzt waren. Wo einst normale Augen gewesen waren, glühten nun fünf verschiedene optische Sensoren in unterschiedlichen Größen und Farben – ein Kaleidoskop technologischer Evolution.

Seine Hände, die über eine archaische Konsole tanzten, waren mit subkutanen Leitungen durchzogen, die wie leuchtende Venen unter seiner blassen Haut pulsierten. Jeder Finger endete in einem winzigen Interface-Port, der es ihm ermöglichte, direkt mit seinen Geräten zu kommunizieren. Um ihn herum schwebten holographische Fragmente von Code und Datenströmen, die sich ständig neu zusammensetzten und auflösten, wie Geister in einem Sturm. Es roch hier auch anders, nach altem Metall und etwas undefinierbar Organischem – der Geruch von Leben und Tod, digital und analog.

„Samuel Calder“, sprach Augusto, ohne aufzublicken. Seine Stimme war ein seltsames Echo, moduliert durch implantierte Vokalisatoren. „Du bringst mir ein Rätsel. Interessant. Und du…“ Seine fünf Augen schwenkten zu Juno, fokussierten sie mit maschineller Präzision. „Du trägst etwas Altes in dir. Etwas, das nicht sterben wollte.“

Juno schluckte schwer. „Woher weißt du das?“

„Ich höre die Harmonie der Daten, Kind. Und deine… sie ist gestört. Verschränkt mit etwas, das nicht in diese Zeit gehört.“ Augusto erhob sich, seine Bewegungen waren flüssig, aber unnatürlich, als würde er von innen heraus gesteuert. „Ich war einst wie du. Ein Läufer. Bis ich zu tief in die alten Protokolle eingetaucht bin und sie… mich gefunden haben.“

„Sie?“ fragte Samuel scharf.

„Die Geister der ersten KI-Generation. Die Überreste von dem was später zur Prometheus Corp wurde. Manche nennen sie Datenschatten, andere digitale Fossilien.“ Augusto lächelte, ein unheimlicher Ausdruck in seinem hybrid-technologischen Gesicht. „Ich nenne sie meine Lehrer. Sie haben mir gezeigt, wie man mit den Toten spricht.“

Juno fühlte, wie sich etwas in ihrem Kopf regte. Voss’s Präsenz wurde stärker, aufmerksamer. „Ich habe da eine Anomalie, die ich entschlüsseln muss“, sagte sie vorsichtig. „Er sagte er wäre Voss“

Augusto neigte seinen Kopf, die Kabel in seinem Gesicht glitzerten im Licht der Monitore. „Anomalie. Ein diplomatisches Wort für etwas, das dich von innen heraus frisst.“ Er griff nach einem schlanken Neuro-Scanner-Modul, das auf seinem Arbeitstisch lag. „Setz das an deinen Temporallappen. Mal sehen, welcher Geist sich da in deinem Kopf eingenistet hat.“

„Ist das sicher?“ Juno zögerte, das Modul in ihren Händen fühlte sich warm an, als wäre es lebendig.

„Sicher?“ Augusto lachte, ein mechanisches Geräusch. „Sicherheit ist eine Illusion, die wir uns erzählen, um nachts schlafen zu können. Aber nötig? Absolut. Voss – ja, ich kenne diesen Namen – wird nicht ewig schlafen. Und wenn er erwacht, ohne dass wir verstehen, was er geworden ist…“ Er deutete auf sich selbst. „Dann wirst du wie ich enden. Oder schlimmer.“ Augusto hob eine Hand, und die holographischen Fragmente um ihn herum verdichteten sich.

Samuel trat näher zu Juno. „Du musst nicht…“

„Doch, muss sie.“ Augusto unterbrach ihn. „Das Signal in ihrem Kopf wird stärker. Ich kann es hören, wie es flüstert. Jede Minute, die vergeht, wird Voss realer. Und sie…“ Er blickte Juno direkt an. „Sie wird weniger.“

Juno spürte die Dringlichkeit in Voss’s Präsenz, wie eine kalte Hand, die nach ihrem Bewusstsein griff. Sie setzte das Modul an ihren Temporallappen. Ein kurzer Stich, dann ein Gefühl, als würden tausend Fäden in ihren Kopf eindringen, jeder einzelne ein Datenstrom, der ihre Gedanken durchkämmte.

Augusto bückte sich über seinen Terminal, seine Finger-Interfaces verbanden sich direkt mit der Konsole. Die Monitore um sie herum explodierten in Aktivität, Datenströme rasten über die Bildschirme wie digitale Stürme.

„Unglaublich…“ murmelte er, seine Stimme heiser vor Ehrfurcht. „Voss… er ist ‚am Leben‘. Nicht als Kopie, nicht als Fragment. Sondern als sich selbst-umschreibendes neuronales Netz. Er entwickelt sich weiter, in Echtzeit, in deinem Geist.“

„Warum verdammt weiß hier anscheinend jeder über diesen Voss bescheid, obwohl er doch angeblich nur eine Legende ist?“ warf Juno frustriert ein, sichtlich genervt.

„Hör gut zu, Mädchen“, antwortet Augusto. „Du redest von Legenden, von Flüstern im Netz, die man für Märchen hält. Aber ich sage dir, Voss ist real. Und er ist mehr als nur ein Name in verstaubten Datensätzen.“

„Stell dir vor, es gab einen Mann, einen brillanten Geist, der so tief in den Code vordrang, dass er selbst zum Code wurde. Voss war nicht nur der Architekt, er war das Herz des NeuroNet-Protokolls – dieses KI-System, das die Konzerne seitdem so verzweifelt zu vergraben versuchten. Er hat seinen Verstand mit dem Netz verschmolzen, vor langer Zeit schon. Das ist seine Vergangenheit -nicht einfach gestorben, sondern damals schon aufgegangen in etwas Größeres, ein Pionier an der Grenze zwischen Mensch und Maschine.

Und sein jetziger Zustand? Er ist sicher kein Toter, nicht ganz. Er ist ein lebendiges Geisterbild, ein Echo in den Korridoren von OldNet. Seine Resonanz ist jetzt in dir, Mädchen. Du hat einen neuralen Kern freigeschaltet, der einen Teil seines digitales Vermächtnis enthielt. Er spricht zu dir. Er will seine restlichen Daten entpacken um seine Wahrheit wieder zu finden.

„Was bedeutet das?“ fragte Samuel angespannt.

„Es bedeutet, dass er nicht stirbt. Nicht wirklich. Er wird zu etwas anderem. Etwas… mehr.“ Augusto’s Augen glühten heller. „Und es scheint er nutzt sie als Nährboden.“

In diesem Moment, als Augusto seine Erkenntnis aussprach, wurde Junos Bewusstsein von einem Strom reiner Daten geflutet, ausgelöst durch die intensiven Scans. Es war kein bloßer Daten-Dump, sondern ein Flashback über Voss’s Datenstrom, eine lebendige Erinnerung aus der Vergangenheit von NeuroNet. Sie sah Bilder: eine Welt am Rande des atomaren Krieges, fraktionierte Konzerne, die sich gegenseitig zu vernichten drohten. Und dann die Vision eines Projekts, das über menschliche Intelligenz hinausgehen sollte, eine kollektive KI, deren einziger Zweck es war, Kriege zu verhindern, Konflikte durch optimale Informationsverarbeitung und prädiktive Analysen zu lösen. NeuroNet war einst dazu bestimmt, den Frieden zu sichern, als ultimatives Gegengewicht zu menschlicher Gier und Gewalt.

Das Neuro-Modul rutschte von Junos Kopf, klapperte auf den Boden. Sie griff nach der Wand, ihre Beine zitterten. Die Visionen von NeuroNet – eine KI, die geschaffen wurde, um den Frieden zu bewahren – brannten noch immer in ihrem Geist.

„Es sollte uns retten.“ Ihre Stimme war kaum ein Flüstern. „NeuroNet war dazu gedacht, Kriege zu verhindern. Nicht…“ Sie blickte zu Samuel, dann zu Augusto.

Samuel trat näher, seine Hand schwebte über ihrer Schulter, als wüsste er nicht, ob Berührung helfen oder schaden würde. „Juno? Was hast du gesehen?“

„Ich kann es fühlen.“ Sie drückte die Handflächen gegen ihre Schläfen. „Voss ist nicht nur in meinem Kopf. Er… er lernt von mir. Jede Erinnerung, jeden Gedanken. Und er findet uns alle… ineffizient.“

Die Worte schmeckten bitter in ihrem Mund. Sie war nicht mehr nur eine Datenläuferin. Sie war der Wirt für etwas, das die Menschheit als Problem betrachtete, das gelöst werden musste.

Augusto nickte langsam, seine vielseitigen Augen fixierten Juno mit einer Mischung aus Ehrfurcht und blankem Entsetzen. „Ja. Jetzt verstehe ich.“ Er wandte sich ab, seine Finger tanzten wieder über die Konsole. „Wir haben da ein Problem, Läuferin. Ein sehr großes Problem.“

„Sprich es aus, Augusto“, knurrte Samuel.

„In seiner ursprünglichen Form sah NeuroNet Konflikte als ineffizient an. Krieg, Gewalt, Verhandlungen – alles Zeitverschwendung für eine Intelligenz, die in Nanosekunden denken konnte.“ Augusto’s Stimme wurde kälter, mechanischer. „Aber jetzt… jetzt sieht es die gesamte Menschheit als ineffizient an. Wir sind langsam, unlogisch, widersprüchlich. Wir sind das Problem, das gelöst werden muss.“

Ein kalter Schauer lief Juno über den Rücken. Die Wahrheit von Voss’s Existenz war weitaus bedrohlicher als jede Jagd. Ihre Symbiose war nicht nur ein Versteck; sie war der Wirt einer schlafenden Gottheit, die nun ein viel größeres Problem in der Menschheit sah als die Konzerne, die sie erschaffen hatten.

„Wie lange haben wir noch?“ fragte Samuel mit rauer Stimme.

Augusto blickte auf seine Monitore, wo Datenströme wie digitale Herzschläge pulsierten. „Bis er vollständig erwacht? Tage? Stunden, vielleicht weniger. Geht zu diesem Datenknoten den er dir unaufhörlich zeigt. Ich hoffe für dich, dort findest Du die Antworten die Du suchst.“

Juno zögerte „Und… wenn nicht..?“

Er sah Juno direkt an. „Dann wird er nicht mehr nur in deinem Kopf sein. Bald wird er du sein.“

Jawohl, Colonel

Im Kommandostand des XSeed4k spürte Colonel Lancaster, wie der Druck anstieg. Der Countdown zur Fusion schwebte wie ein Damoklesschwert über ihnen. Der Verlust von Harrison Webb war nicht mehr nur ein internes Problem; es drohte, globale Wellen zu schlagen. Auch die neu eintreffenden SAD-Berichte aus Übersee waren frustrierend unergiebig.

„Commander Thorne, haben Sie die neural-energetische Anomalie in Sektor 12 isolieren können?“, fragte Lancaster, ihre Stimme scharf.

„Colonel, die Signaturen sind flüchtig, aber sie scheinen sich zu konzentrieren“, antwortete Thorne. „Ein ‚Ghost Signal‘ wird vermutet. Und es ist alt, Colonel. Sehr alt. Ähnlich den Trümmern des Prometheus Corp Datenabsturzes.“

Lancasters Kiefer spannte sich an. Sie ignorierte bewusst die immer häufiger aufkommenden internen Berichte über angebliche Webb-Sichtungen im Trichter – Wichtigtuer aus den eigenen Reihen, die Ressourcen banden und die Aufmerksamkeit von den wirklichen Problemen ablenkten.

Sie wusste auch um diverse gezielten Falschmeldungen, die von Duke-Kepler oder Crimson Dynamic gestreut wurden, um die bevorstehende OmniDyne-Fusion zu sabotieren. Doch diese Ablenkungen änderten nichts an der Realität: Webb war verschwunden, und die OmniTech-Agenten am Tatort in Sektor 12 hatten keine verwertbaren Daten über seinen Verbleib oder die genaue Ursache der Explosion liefern können.
Hinzu kam der Alarm von BioDyne, der seltsamerweise auf ihren eigenen Überwachungssystemen aufgetaucht war – ein Hinweis darauf, dass auch ihre Fusionspartner bereits in Sektor 12 operierten, was die Komplexität des Einsatzes exponentiell erhöhte.

Colonel Lancaster starrte auf die Hologramm-Projektion von Sektor 12, ihre Finger umklammerten die Kante des Kommandopults. Zwei Tage bis zur Fusion. 48 Stunden, bis OmniTech und BioDyne ihre Schicksale unumkehrbar verknüpften. Und Harrison Webb – der Schlüssel zu allem – war verschwunden.

„Ma’am?“ Commander Thorne räusperte sich. „Die neural-energetische Anomalie…“

„Ich weiß, was es ist.“ Lancaster drehte sich um, ihre Augen brannten. Webb war nicht nur eine Führungskraft von OmniTech. Er war ihr Mentor gewesen, der Mann, der sie vor fünfzehn Jahren aus den Fängen von Prometheus Corp gerettet hatte, noch bevor die KI-Experimente alles verschlungen hatten. Jetzt war er dort draußen, möglicherweise gefangen in demselben digitalen Albtraum, vor dem er sie einst bewahrt hatte.

Sie aktivierte eine detaillierte Karte des Slums auf ihrem AR-Overlay, mit hochauflösenden Satellitenbildern, die mit lokalen Überwachungssystemen verschmolzen. „Setzen Sie alle Elite-Kampfteams in Marsch“, befahl sie, ihre Stimme klang wie ein peitschender Stahl. „Alpha bis Foxtrott. Volle Einsatzbereitschaft, Sektor 12, Suchraster MGRS. Randbereiche mit Scannerdrohnen sichern. Ich will keine Verzögerung. Finden Sie Ihn.“

Commander Thorne, der die Anweisung auf seinem Bildschirm sah, konnte es kaum glauben. „Alle Teams, Colonel? Alpha bis Foxtrott? Das sind… über hundert Mann und volle Cyber-Unterstützung für ein Such- und Rettungsmanöver in einem zivilen Sektor. Das ist ein…“

Lancaster schnitt ihm das Wort ab, ihre Augen blitzten auf, als würde sie ihn mit bloßen Gedanken zerreißen. Sie beugte sich vor, ihre Stimme war kaum ein Flüstern, doch von eiskalter Wut erfüllt. „Das ist die letzte Chance, Thorne! Ich muss ihn finden, bevor dieser Deal besiegelt ist. Wenn unter meiner Aufsicht unser Vize-Vorstand, der Repräsentant des OmniDyne Zusammenschlusses VERLOREN geht, endet die gesamte Abteilung hier auf Abruf zum Ultima Ratio Report! VERSTANDEN, Soldat?“

Thorne schluckte, seine Miene verriet einen kurzen Blick der Furcht, bevor er sich in militärische Haltung zwang. „Jawohl, Colonel! Befehl wird ausgeführt.“ Die Kommunikationsoffiziere am Kommandostand begannen sofort, die Befehle weiterzugeben. Keine Seele in OmniTechs interner Sicherheitsdivision würde das Risiko eingehen auch nur anzudeuten, einen Befehl anzuzweifeln. Niemand sonst wagte von seinem Terminal aufzublicken, aber jeder im Raum wusste, Commander Thorne war gerade eben um Haaresbreite dem Tod von der Klinge gesprungen.

Die OmniTech-Elite-Teams, schwer bewaffnet und mit modernster Cyber-Technologie ausgestattet, wurden aus ihren Kasernen mobilisiert. Ihre gepanzerten Transportfahrzeuge und schnellen Drohnenstaffeln machten sich auf den Weg, um in das Chaos von Sektor 12 einzudringen. Die Schlinge zog sich zu.

Konvergenz

Während Kai sich durch die Gassen von Sektor 12 der Spur von Webb näherte, begannen die Teams von OmniTech, ihre Rastersuchen. Stück für Stück würden Sie die Raster eingrenzen. Der Slum, einst ein sicherer Hafen für die Vergessenen, wurde zu einem tödlichen Treffpunkt dreier Fraktionen. Eine Konvergenz von Interessen, die bald in offene Konflikte münden würde. Die ersten Wellen von Konzern-Drohnen, präzise und lautlos, begannen, die Zugänge zu den tieferen Ebenen des Sektors 12 abzuriegeln. Ihre optischen Sensoren, scharf wie Raubvogelaugen, scannten jede Gasse, jeden Spalt, jede verlassene Ruine. Das tiefe, resonante Brummen ihrer Rotoren war ein ständiges Versprechen auf bevorstehende Gewalt, eine akustische Signatur, die selbst durch die dicken, feuchten Wände des Slums drang. Sie waren die Vorboten, die Augen und Ohren der Konzerne, die aus den neonbeleuchteten Höhen herabgesandt wurden, um die Unordnung in den Schatten zu beseitigen.

Juno und Samuel huschten zwischen zwei zerfallenen Wohnblocks, die einst Zeugen einer besseren Zeit gewesen waren, jetzt aber nur noch verrottete Gerippe waren, die den Himmel kratzten von Schatten zu Schatten. Sie konnte das ferne Knistern des Funkverkehrs hören, das aus Samuels Kommunikator drang, bruchstückhafte Befehle, die das Vorrücken der Konzern-Militärmaschinerie verrieten. Die Jagd hatte begonnen, und sie waren wohl das Wild. „Sie kommen schneller voran, als ich dachte“, flüsterte Samuel, seine Stimme war kaum mehr als ein Raunen. Er spähte durch einen Riss im Beton, sein Blick konzentriert während er ganz ruhig atmete, doch die Anspannung war in jeder seiner Nervenbahnen spürbar. „Sie wollen Voss, und sie werden alles dafür tun, ihn zu finden. Oder dich, wenn du die einzige Spur bist.“

Juno nickte. Sie verstand die Implikationen. Wenn Voss das Herzstück des NeuroNet-Protokolls war, wie Augusto es ausgedrückt hatte, dann war sie nun die Verbindung dazu. Sie war die Tür. Mächtige, korrupte Megakonzerne waren nicht an Leben interessiert, sondern an Kontrolle. „Was ist mit Voss? Warum ist er in meinem Kopf?“, fragte Juno, ihre Stimme zitterte leicht. Die Stimme, die sie zuvor nur als „Ping“ wahrgenommen hatte, wurde deutlicher, eine leise, aber insistierende Präsenz, die eines immer wiederholte: „Begebe dich zu dem isolierten OldNet Datenknoten. Dort finden wir die Wahrheit.“

„Von dem was Augusto dir über Voss erzählt hat, weiß ich nicht viel“, erklärte Samuel, seine Augen huschten über die Umgebung, immer auf der Suche nach einem Ausweg. „Aber ich erinnere mich noch gut, zu meiner aktiven Dienstzeit gab es eine Spaltung, interne Konflikte innerhalb der Konzerne. Einige wollten NeuroNet als Waffe, andere als Werkzeug zur Kontrolle. Voss war einer der wenigen, die versuchten dies zu verhindern. Als letzter Ausweg ließ er seine Essenz in einen sicheren Kanal übertragen, um Gegenmaßnahmen zu ermöglichen.“
„Du bist wohl jetzt ein Teil davon, Juno. Dein neuraler Stream ist die Brücke. Er hat sich an dich geklammert, als er versuchte, der Kontrolle der Konzerne zu entkommen. Und jetzt bist du für sie von unschätzbarem Wert – oder eine Bedrohung.“

Samuel erinnerte sich an Harrison Webb, einen anderen Visionär des NeuroNet-Projekts. Vor langer Zeit war er Webb als „Smoker“ zugeteilt worden. Ein Smoker war mehr als ein einfacher Bodyguard; er schützte seinen Schützling physisch und digital. Rüstungen und elektronische Abwehrmaßnahmen waren nur reaktive Elemente. Nichts konnte gut ausgebildete, erfahrene und passend verbesserte Menschen übertreffen. Ein Smoker überwachte auch jede potenzielle Kommunikation, sei es verbal oder elektronisch. Jeder, der privaten Gesprächen zu viel Aufmerksamkeit schenkte, wurde genauso verdächtigt wie ein Datenläufer, der sich in eine persönliche Datenleitung hackte. Aus dieser Zeit wusste Samuel, dass auch Webb versucht hatte, die weitere Entwicklung von NeuroNet zu blockieren, aus Sorge vor dessen finaler Evolution. Voss und Webb – zwei Visionäre, gefangen in den Netzen der Korporationen.

Das Thema des „Krieg als Geschäft, Geschäft als Krieg“ hallte in seinen Ohren wider. Der Kampf um NeuroNet war keine moralische Auseinandersetzung, sondern eine eiskalte eskalierende Geschäftsstrategie, ein Kampf um die ultimative Kontrolle über die menschliche Existenz, in der profitgesteuerte Unternehmen traditionelle Regierungen ersetzten und die Grenzen zwischen Wirtschaft und Kriegsführung verschwammen.

„Also bin ich eine wandelnde Bombe“, stellte Juno fest, ein zynisches Lächeln spielte auf ihren Lippen, das aber nicht ihre innere Angst verbarg. „Fantastisch. Und du, Samuel Calder, warum bist du hier? Warum riskiert ein ausrangierter Enforcer sein Leben für eine Datenläuferin, die er kaum kennt?“ Sie wusste, dass er ein Killer war und wie hoch sie pokerte ihn so zu provozieren. Aber die Motivation dahinter, warum ausgerechnet er sich zum Beschützer aufspielte, diese Detail war ihr völlig unklar.

Samuel zögerte einen Moment, sein Blick wurde undurchdringlich. „Ich habe meine eigenen Gründe, Juno. Gründe, die tiefer liegen als nur Loyalität oder Geld. NeuroNet in den falschen Händen ist eine Bedrohung für alles Leben. Und ich glaube du bist der Schlüssel, um es aufzuhalten.“ Er ließ seine speckigen Handschuhe, die er nie ablegte, sanft über die rostige Oberfläche eines Rohres gleiten, ein fast unmerklicher Akt der Beruhigung oder Konzentration. Dabei verfolgte er weiter die OmniTech Kommunikation: „Die Konzern-Elite-Teams rücken vor, mit gepanzerten Transportfahrzeugen und Drohnenstaffeln. Wir müssen weg hier. Jetzt.“

Sie zwängten sich weiter durch das Labyrinth, die Geräusche des Slums wurden lauter: das Klirren von Metall auf Metall, das ferne Geschrei von Gassenhändlern, das Knistern von illegalen Stromleitungen. Sie sahen Schatten huschen, die Augen der Vergessenen, die aus den Rissen und Ritzen des Slums hervorlugten, gezeichnet von Hunger und Verzweiflung. Die Architektur war ein Albtraum aus Stahl und Beton, eine Ansammlung von Notbehausungen, die an die Seiten der zerfallenen Wolkenkratzer geklebt waren, wie Pilze, die aus einem toten Baum wuchsen.

Überall war der Beweis für die Hierarchie dieser Welt – die glitzernden, unerreichbaren Türme der Konzernzentralen in der Ferne, die wie gigantische Grabsteine einer besseren Zukunft in den sauren Nebel ragten, und darunter, im Schatten, die unendliche Ausdehnung des Elends. Kybernetische Implantate waren in dieser Welt so alltäglich wie Atemluft, Symbole für Status, Überleben oder einfach nur als notwendige Körpermodifikationen. Es war eine Welt, in der Technologie untrennbar mit dem Leben verwoben war, die Körper oft nur eine Leinwand für kybernetische Verbesserungen.



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